Wie beeinflusst die Corona-Pandemie die Situation der Menschenrechte weltweit?
Bosse-Huber: Wir wissen aus den Berichten unserer Partnerkirchen, von internationalen Organisationen und dem Weltkirchenrat (ÖRK), dass Corona weltweit immer wieder als Deckmäntelchen genutzt wird, um Menschenrechtsverletzungen unsichtbar zu machen. Es werden angebliche Corona-Schutzgesetze implementiert und benutzt, um sowieso schon diskriminierte Gruppen zu inhaftieren oder öffentliche Demonstrationen zu verhindern. Das gibt es in mehreren afrikanischen und asiatischen Staaten. Was wir zum Beispiel in der westlichen Welt erleben – auch von US-Präsident Donald Trump – ist, dass bis heute vom „China-Virus“ gesprochen wird, um bestimmte Völker, Minderheiten oder wie in diesem Fall ein riesiges Weltreich zu diskriminieren, indem man es für das Corona-Virus verantwortlich macht.
Zusätzlich sind durch die Corona-Pandemie Millionen Menschen benachteiligt, weil sie in Regionen leben, in denen große Armut herrscht und der Zugang zu grundlegender Versorgung von Wasser, Nahrung und Medizin nicht gegeben ist. Ich denke da an Menschen, die in Slums am Rand von Mega-Städten wie Kairo leben. Wie soll man da Abstand halten? Wie kann man Menschen, die überhaupt keinen Zugang zu Wasser haben, sagen, sie sollen sich regelmäßig die Hände waschen? Das ist zynisch. Auch arbeiten 90 Prozent der Weltbevölkerung im informellen Sektor – als Wanderarbeiter*innen, Tagelöhner*innen oder Straßenhändler*innen. Nach abrupten Lockdowns standen sie plötzlich ohne Einkommen da und haben sich oft zu Fuß aus den Großstädten in ihre Heimatdörfer aufgemacht. Viele von ihnen haben das nicht überlebt, sie sind verhungert oder unterwegs gestorben.
Aber auch hier in Deutschland sind Menschen durch die Corona-Pandemie besonders gefährdet – zum Beispiel Geflüchtete in Sammelunterkünften oder Wohnungslose. Was ist, wenn die Einrichtung, in der man normalerweise duscht, geschlossen ist? Genau deshalb fordert die Diakonie Deutschland jetzt in den Wintermonaten mehr Übernachtungsräume zu schaffen, damit diese Menschen der Ansteckung nicht noch stärker ausgesetzt sind, als sie es sowieso schon sind. Als Kirche muss uns der Schutz dieser Menschen unglaublich wichtig sein.
Die Allgemeine Menschenrechtserklärung wurde am 10. Dezember 1948 beschlossen. Damit war damals erst einmal viel geschafft. Was würden Sie sagen, fehlt aus heutiger Sicht in dem Dokument?
Bosse-Huber: Am meisten fehlt, dass sie völkerrechtlich nicht bindend ist. Das hat man in den 1960er und 70er Jahren versucht nachzuholen – durch den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte („Zivilpakt“) und den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte („Sozialpakt“). In der Folge ist 1950 zum Beispiel auch die Europäische Menschenrechtskonvention entstanden. An Papier mangelt es an dieser Stelle nicht – und ich glaube, es mangelte auch nicht an dem ehrlichen Willen derer, die diese Papiere unterzeichnet haben. Aber was uns bisher nicht gelungen ist, ist einzuhalten, was wir in den Dokumenten festgehalten haben. An vielen Stellen muss man sagen, ist das Gegenteil der Fall. Menschenrechte sind hoch fragil und ob sie für alle gelten, wird auch in Deutschland wieder offen infrage gestellt. Wir haben es mit neuen Formen von Rassismus zu tun, die so offen bislang nicht auf der politischen Bühne vorkamen. Es gibt die Gefahr, dass Menschen, die sich für Menschenrechte einsetzen, selbst zum Opfer von Menschenrechtsverletzungen werden – zum Beispiel, wenn Flüchtlingshelfer*innen bedroht werden. Wir müssen mit Entschiedenheit dagegen aufstehen und diese kostbare Menschenrechtserklärung nach allen Kräften verteidigen.
Das Interview führte Patricia Averesch