Über die Reise selbst ist wenig bekannt. Luther wählt wohl nicht den kürzesten Weg, sondern bleibt lieber auf sicherem kursächsischen Boden. Im Dezember, bei einer heimlichen Visite in Wittenberg, bevorzugte er noch die etwa 220 Kilometer lange direkte Verbindung zwischen der Burg und der Universitätsstadt, erläutert Spehr. Davon hat Georg, Vetter Friedrichs III., Herrscher über Sachsen und erklärter Gegner der Reformation, wohl Wind bekommen. Seit beider Väter das Land in Kursachsen und Sachsen teilten, nehmen die Grenzen zwischen beiden Staaten oft einen abrupten Verlauf. Der vogelfreie Luther, seit dem Wormser Reichstag in seinem Leben bedroht, reitet lieber auf Nummer sicher.
Zur lokalen Legende gerät sein Aufenthalt im Gasthaus „Zum Bären“ in Jena am 3. und 4. März. „Er trug Wamms und lange Hosen und auf dem Kopfe eine rothe Lederkappe, ganz nach Landesgewohnheit der Reitersleute“, fabulierte Friedrich Helbig 1883 im Leipziger Familienblatt „Die Gartenlaube“ über das Treffen mit zwei Schweizer Studenten. Belegt sind zudem Luthers Aufenthalt am 5. März in Borna und seine Ankunft 24 Stunden später an einem Donnerstag in Wittenberg.
Viel Zeit lässt der Reformator dort nicht verstreichen. Aus dem Reitersmann mit Bart und Schwert wird wieder der Mönch in Kutte mit Tonsur. Bereits am Sonntag, dem 9. März, steht er auf der Kanzel und führt die Wittenberger mit seinen Invokavitpredigten auf einen gemäßigten reformatorischen Weg zurück. Die erste Hürde ist genommen. Nun geht es um seine Bibelübersetzung.
Erst am 18. Dezember hatte er damit begonnen, das Neue Testament vor allem aus dem Griechischen ins Deutsche zu übertragen. Für den Reformator handelt es sich um nicht weniger als eines seiner Kernanliegen: „Wenn doch jede Stadt ihren eigenen Dolmetscher hätte und dies Buch allein in aller Zunge, Hand, Augen, Ohren und Herzen wäre!“, zitiert ihn der Leiter des Eisenacher Bachhauses, Jochen Birkenmeier. Nach nur elf Wochen war Luther mit der Arbeit auf der Wartburg fertig.
In Wittenberg geht er mit befreundeten Theologen, zuvorderst Philipp Melanchthon, das Manuskript akribisch durch. Es dauert bis zum Herbst, bis der Druck beginnen kann. Dem „Septembertestament“ folgt schon im Dezember eine zweite korrigierte Fassung. Bis zur vollständigen „Lutherbibel“ dauert es indes noch bis 1534, wobei an der Übersetzung des Alten Testamentes ein ganzes Autorenkollektiv beteiligt ist.
Die Wirkung der Bibelübersetzung war und ist kaum zu überschätzten. „Sie schuf nicht nur einen neuen Zugang zur Heiligen Schrift und die Grundlage einer gemeinsamen deutschen Schriftsprache, sondern inspirierte auch volkssprachliche Bibelübersetzungen in vielen anderen Ländern Europas“, bescheinigt ihr Birkenmeier.
Auf Luther selbst hatte der Aufenthalt auf der Wartburg einen enormen Einfluss. Unmittelbar davor hatte die Kirche ihn exkommuniziert und der Kaiser ihn für vogelfrei erklärt, weil er seine Lehren nicht widerrief. Ging es Luther zunächst um die Reform kirchlicher Zustände sowie um die Verbreitung der evangelischen Lehre, war ihm das als verurteilter Ketzer innerhalb der Papstkirche fortan unmöglich. Ab 1522 bewegte ihn die konkrete Frage, wie sich die evangelische Lehre in der kirchlichen Praxis umzusetzen lässt.
Nicht mit Gewalt, sondern behutsam, geordnet, erläutert Spehr. Die Monate auf der Burg waren dabei eine Zäsur: „Der junge, eruptive Luther avancierte zur Autorität und zum Gestalter der Reformation, der überstürztes Handeln ablehnte.“