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18.09.2024 „Wenige Persönlichkeiten haben die Beziehungen zwischen Christen und Juden in der württembergischen Landeskirche in vergleichbarer Weise geprägt“

„Wenige Persönlichkeiten haben die Beziehungen zwischen Christen und Juden in der württembergischen Landeskirche in vergleichbarer Weise geprägt“ 

Zum Tod von Pfarrer Dr. Hartmut Metzger  

Stuttgart. „Wenige Persönlichkeiten haben die Beziehungen zwischen Christen und Juden in der württembergischen Landeskirche in vergleichbarer Weise geprägt, wie ihm das im Lauf seines Lebens gelungen ist – auch noch lange nach seinem Eintritt in den Ruhestand.“ So würdigt Jochen Maurer, landeskirchlicher Pfarrer für das Gespräch zwischen Christen und Juden, den württembergischen Theologen und Kirchenrat Dr. Hartmut Metzger, der am 10. September im Alter von 92 Jahren verstorben ist. Von 1968 bis zu seinem Ruhestand 1997 war Metzger in der württembergischen Landeskirche für den christlich-jüdischen Dialog zuständig, für den er sich auch in seiner Zeit als Leiter der kirchlichen Bildungsstätte Kloster Denkendorf ab 1972 intensiv engagierte. 

Im Folgenden finden Sie eine ausführliche Würdigung des Lebens und Werks Dr. Hartmut Metzgers durch Jochen Maurer: 

„Am 10. September 2024 ist Kirchenrat Pfarrer Dr. Hartmut Metzger in Tübingen verstorben. Wenige Persönlichkeiten haben die Beziehungen zwischen Christen und Juden in der württembergischen Landeskirche in vergleichbarer Weise geprägt, wie ihm das im Lauf seines Lebens gelungen ist – auch noch lange nach seinem Eintritt in den Ruhestand.  

Geboren im Dezember 1931 erlebt er als ältestes Kind eines Lehrerehepaars Kindheit und Jugend in Weißbach am Kocher, später in Wannweil. Stark war der Einfluss der NS-Ideologie, die auf Gehorsam und Gefolgschaft abzielte. Der umfassende, totalitäre Anspruch auf bedingungslose Unterwerfung des Einzelnen und seiner Rechte ist eine Prägung, die Metzger mit den Angehörigen der Jahrgänge teilt, die durch diese Schule gegangen sind. Und konstitutiv für das, was die Nazis als deutsch definierten, war die Feindschaft gegen Jüdinnen und Juden.  

Das zu erkennen und einen neuen Weg einzuschlagen, gelang Hartmut Metzger nach der Befreiung vom Nationalsozialismus nach und nach. Ein erster Schritt auf diesem Weg war der Konfirmationsunterricht, den er im Alter von 16 Jahren verspätet besuchte und der ihm eine neue Perspektive eröffnete: Bibel, Glaube, die existentielle Verortung darin – und in der evangelischen Kirche. Er nahm ein Theologiestudium auf, zunächst in Tübingen, später in Wien, wo er mit einer Doktorarbeit über Kierkegaard promoviert wurde.  

Metzger tritt eine erste Stelle als Religionslehrer am Johannes-Kepler-Gymnasium in Bad Cannstatt an. Mit einer seiner Klassen besucht er 1960 die Synagoge; Herbert Kahn, der damalige Religionslehrer der jüdischen Gemeinde in Stuttgart, ist der Gesprächspartner. Aus dieser Begegnung entwickelt sich später eine lebenslange Freundschaft – eine der Beziehungen, die die wesentlichen Triebfedern der Umkehr für Hartmut Metzger wurden. Herbert Kahn (1917 – 1991), gebürtig aus Wollenberg im Kraichgau, war mit 21 Jahren nach dem Novemberpogrom im KZ Dachau dem Hass und der Gewalt der Nazis ausgesetzt gewesen, aber trotzdem offen für diese jungen Deutschen. Kahn empfahl einen Besuch in Israel – nach dem Abitur im Frühjahr 1962 sollte dieser stattfinden. Der zeitgeschichtliche Kontext ist wichtig: 1961 hatte der Eichmannprozess stattgefunden, ein Jahr später im Juni wurde das Urteil vollstreckt. 

Vor der Aufnahme diplomatischer Beziehungen der jungen Bundesrepublik zum nur wenig älteren Staat Israel 1965 war es aber unumgängliche Voraussetzung, dass eine Einladung ausgesprochen wurde; Bundespräsident Heuss setzte sich dafür ein. Ziel war Schawei Zion, eine landwirtschaftliche Siedlung nördlich von Haifa: „Heimkehrer nach Zion“ bedeutet der Ortsname übersetzt: Die schwäbischen Juden, die 1938 die Rexinger Heimat verlassen mussten, um ihr Leben zu retten, wollten keine Flüchtlinge sein! Weitere Freunde fürs Leben wurden Leopold Marx, gebürtiger Stuttgarter; der Bürgermeister Rechtsanwalt Dr. Scheuer, gebürtiger Heilbronner, Theodor Heuss´ Mitschüler und Weltkriegsversehrter; Jakob Fröhlich und Werner Neufließ, der die Jahre 1943 bis 1945 in Theresienstadt überlebt hatte. Sechs Wochen, vor allem Arbeit auf den Feldern: Die Cannstatter Abiturienten mussten sich erst Akzeptanz verschaffen, erleben dann aber die Bereitschaft der israelisch-schwäbischen Gastgeber, sich auf die Gäste einzulassen. Dies trotz der existentiell erlebten Zurückweisung und Verfolgung, trotz der deutschen Verbrechen – ein großes Geschenk des Vertrauens.  

1969 wurde Hartmut Metzger mit der Leitung der Ev. Fortbildungsstätte Kloster Denkendorf betraut – bis zum Eintritt in den Ruhestand 1997 nimmt er diese landeskirchliche Aufgabe wahr, die Mitarbeiterinnen gemeindebezogener Dienste ab 1972 Aus- und Fortbildung gewährte. Die Arbeitsfelder waren etwa die Kindertagesstättenarbeit und die Pfarramtssekretariate. Seinen Ursprung hat hier auch das Denkendorfer Modell, ein Konzept zur individuellen und ganzheitlichen Sprachförderung für Kinder mit Deutsch als Zweitsprache, das 1973 eingeführt wurde und bis heute weiterentwickelt wird – ein kirchliches Pionierprojekt in der sich zur Einwanderungsgesellschaft wandelnden Republik. 

Der Ortsname Denkendorf hat einen guten Klang – und das gilt auch noch in einer ganz anderen Sphäre: Unter orthodox-jüdischen Israelis, die durch die Vermittlung von Herbert Kahn und Hartmut Metzger seit 1978 regelmäßig nach Denkendorf kamen – und zwar ins Kloster! 

Das ist mindestens aus zwei Gründen verwunderlich – und aus einem Grund verständlich: Ein Kloster steht in besonderer Weise für die monastische, christliche Tradition – mit allen Aspekten kirchlicher Macht. Darunter hatten Jüdinnen und Juden in Europa oft genug zu leiden. Verständlich, dass viele von ihnen solche Orte meiden. Zweitens natürlich die deutsche Geschichte: Das Land, in dem im 19. Jahrhundert der Begriff „Antisemitismus“ erfunden wurde; von wo aus zwischen 1933 und 1945 die Schoa erst vorbereitet und dann planmäßig so radikal wie brutal exekutiert wurde; wo die Haupttäter herstammten und, wie in den letzten Jahren immer deutlicher wird, die vielen, die es geschehen ließen, nicht widersprachen oder auch willig mittaten. Viele der Lehrerinnen und Lehrer, teils in Deutschland geboren, die auswandern mussten bzw. fliehen konnten, hatten sich versagt, je wieder deutschen Boden zu betreten. 

Was sprach nun dafür, nach Denkendorf, ins Kloster zu gehen? Sie hatten sich von der Idee gewinnen lassen, in der pietistisch geprägten württembergischen Landeskirche, in der die Heilige Schrift hochgeschätzt wurde, die Kunst des jüdischen „Lernens“ von Texten bekannt zu machen. „Close reading“ – genau hören, was jedes Wort zu bedeuten hat; Fragen stellen, um auf das zu stoßen, was zwischen den Zeilen mitschwingt. Dieses Konzept hatten Hartmut Metzger mit einigen Weggefährten entwickelt – es war und ist erfolgreich. Bis heute motiviert die Begeisterung der Lernenden die jüdischen Lehrenden.  

Im Kloster Denkendorf fand Ende Juli 1978 die erste Tora-Lernwoche mit orthodox-jüdischen Lehrenden zu Texten aus dem Buch Exodus und dem Thema „Tora und Bund“ statt. Neunzehn Jahre lang war Metzger in Zusammenarbeit mit den Lehrerinnen und Lehrern aus Israel für die inhaltliche Vorbereitung und Durchführung dieses Programms verantwortlich. Das Konzept der Lernwochen, in dieser Form einzigartig, war gut durchdacht: Einmal in Denkendorf (später Bad Boll, aktuell in Stuttgart), im Jahr darauf in Schawei Zion (oder anderswo in Israel) und im dritten Jahr an vier Abenden in württembergischen Kirchengemeinden. So kam jüdisches Lernen auch zu den Menschen – der Kreis der Interessentinnen wurde immer wieder geweitet.  

Das Konzept der Tora-Lernwoche: Christen lernen mit und von jüdischen Lehrenden Texte der fünf Bücher Mose und begegnen jüdischem Leben – Erkenntnis aus der Begegnung führt am leichtesten dazu, das Zerrbild, das die christliche Tradition von Juden gezeichnet hat, zu pulverisieren. Den Schabbat feiern: Wer miterlebt hat, wie die jüdischen Lehrenden gemeinsam mit den Lernenden von Freitagabend bis Samstagabend im Kloster den Ruhetag begehen – der ist kuriert von der Mär, Juden seien gesetzlich und würden mit der schieren Fülle der Ge- und Verbote Freiheit, Freude und Frieden ganz und gar austreiben. Das Gegenteil ist der Fall!     

Im Sommer 2024 hat in Stuttgart die 47. Tora-Lernwoche stattgefunden – nur 2020 musste die Lernwoche coronabedingt von Jerusalem nach Stuttgart verlegt werden.  

Ein weiteres Stichwort ist wichtig zu nennen: Damit orthodox-jüdische Lehrende unkompliziert an einer solchen Veranstaltung teilnehmen können, muss die Küche koscher sein – das heißt, die Mahlzeiten müssen den Anforderungen der Tora entsprechen. Dafür braucht es zum einen eine Küche, in der milchige und fleischige Gerichte getrennt zubereitet werden können; außerdem ist eine Aufsicht nötig, die die Kaschrut zertifiziert. 

Beides war in Denkendorf gegeben: Für die Aufsicht übernahmen die Lehrenden Verantwortung, dass die Küche koscher war und die Mitarbeitenden wussten, was zu beachten ist – dafür, dass diese komplexe Aufgabe gut und verlässlich erfüllt wurde, sorgte Doris Metzger. Ein Kloster im Schwäbischen kann das gewährleisten – kein Wunder, dass „Denkendorf“ bis heute unter den jüdischen Lehrenden einen fast mythischen Klang hat. 

Warum aber sollen Christen mit bzw. von Juden Tora lernen? Auch die Mose-Bücher sind Teil der Lutherbibel – und mehr davon zu kennen, als das erste und Teile des zweiten Buches ist lohnend: Die Nächstenliebe, die Sorge für die Armen, Waisen und Witwen, die zehn Gebote in doppelter Ausführung – das alles kann sich zu eigen machen, wer es liest und davon weiß.  

Vor allem aber sollte das Tora-Lernen Christen bei der Umkehr helfen – weg von der Geringschätzung der jüdischen Gemeinschaft, ihrer Lehre und Praxis durch die Kirche. Weil er selbst so viele jüdische Freunde gewonnen hatte, legte Hartmut Metzger so viel Wert auf die Begegnung – bei den Tora-Lernwochen, in zahllosen Studienreisen nach Israel, in der alltäglichen Arbeit mit den verschiedenen gemeindebezogenen Diensten in der Fortbildungsstätte: Wer heute mit früheren Mitarbeitenden aus den verschiedenen Fachbereichen oder der Hauswirtschaft spricht, spürt, wie einprägsam und gewinnbringend die alltägliche Nähe zu den jüdischen Gästen auch für sie gewesen ist. Immer wieder haben auch Mitglieder der Kirchenleitung diese Atmosphäre erleben können. 

Der Geringschätzung jüdischer Tradition und Menschen zu begegnen – das ist in hohem Maße erfolgreich in diesen Jahren in Denkendorf gelungen. Es darf aber auch nicht verschwiegen werden, dass dieser Einsatz seinen Preis hatte: In unserer Kirche gab es auch diese Stimmen: „Juden-Metzger“ wurde er hinter vorgehaltener Hand tituliert – der alte Geist war eben nicht überall vertrieben worden. Und so begleitete die Arbeit und später auch den Ruhestand die Frage, wie nachhaltig die Früchte dieses Arbeitslebens waren. Wer Hartmut Metzger näher kannte, weiß auch von einem Zug der Klarheit bis zur Härte, ja Unerbittlichkeit – und sie traf nicht nur die Gegner bzw. sie erkannte Gegner auch in denen, die ähnliche Interessen, vergleichbares Engagement hatten. Bedauerlich – aber menschlich; vielleicht verständlich sei es durch erfahrene Verachtung, sei es durch die Sorge um das Lebenswerk, an dem so vieles so gut gelungen war.  

So vieles verdanken unsere Kirche, Kolleginnen und Kollegen verschiedener Berufsgruppen, Mitglieder unserer Gemeinden dem Einsatz von Hartmut Metzger und dem Echo, das dieser gefunden hat: Nach Denkendorf heißt der Rundbrief, der bis heute erscheint und der Kreis, der nach wie vor aktiv ist, sowie die Hilfe, die Projekte in Israel, aber auch in Litauen fördert; da ist die AG Wege zum Verständnis des Judentums – und nicht zuletzt ein landeskirchliches Pfarramt für das Gespräch zwischen Christen und Juden, das ich heute ausfüllen darf. 

Ich freue mich, dass wir anlässlich des bevorstehenden 90. Geburtstag von Hartmut Metzger während der Tora-Lernwoche 2021 in Stuttgart auf Anregung der israelischen Freunde einen Empfang für Doris und Hartmut Metzger organisieren konnten – und beide auch dabei sein konnten.  

Hochverdient schließlich, dass er 2022 die Otto-Hirsch-Auszeichnung der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW) und der Stadt Stuttgart erhalten hat.  

Am 10. September ist Pfarrer Dr. Hartmut Metzger nach längerer Erkrankung verstorben: 

Mit Doris Metzger, seiner Witwe, mit allen Angehörigen und besonders auch mit den vielen jüdischen Freundinnen und Freunden, die hier und in Israel um Hartmut Metzger trauern, nehmen wir Abschied – dankbar für das, was er angestoßen hat, was aufgrund seines Engagements gewachsen ist an verlässlichen Beziehungen, an Vertrauen und Wertschätzung zwischen Juden und Christen. Viele Menschen, Christen wie Juden, verdanken seinem Einsatz viele lebenswichtigen Impulse, Einsichten und Kontakte. 

In Erinnerung bleibt auch die Entschiedenheit, mit der er das, was er für richtig und nötig hielt, eingefordert hat – das brachte ihm auch aus landeskirchlichen Kreisen Gehässigkeit und Feindseligkeit ein; manchmal drängte sie ihn übers Ziel hinaus.  

Wer heute hört und sieht, wie offen sich antijüdische Haltungen und Meinungen Ausdruck verschaffen und wie vehement gerade auch Falschbehauptungen vertreten werden, lernt freilich solche Entschlossenheit auch zu achten und die Personen, die sie vertreten.  

Persönliche Begegnung mit jüdischem Leben, mit jüdischen Menschen bildet mehr als jedes Studium – es ruft uns in die Verantwortung, für die Wahrheit, für die einzutreten, die zu Unrecht angegriffen werden.  

Schön – und sicher auch Menschen wie Hartmut Metzger zu verdanken – dass wir zurzeit eine ansehnliche Zahl von Stimmen haben, die genau das tun. 

Sein Andenken sei zum Segen – möge seine Seele eingebunden sein in das Bündel der Lebendigen (2. Sam 25,29), wie die jüdischen Freunde sagen.“ 

Über Dr. Hartmut Metzger in Kürze 

Von 1968 bis zu seinem Ruhestand war Metzger in der württembergischen Landeskirche für den christlich-jüdischen Dialog zuständig, für den er sich auch in seiner Zeit als Leiter der kirchlichen Bildungsstätte Kloster Denkendorf ab 1972 intensiv engagierte. In diesem ehemaligen Kloster schuf er über Jahre einen Ort, an dem Juden und Christen sich begegnen, mit- und voneinander lernen und ein neues Verhältnis zueinander gewinnen konnten. Ebenfalls leitete er über viele Jahre den Denkendorfer Kreis für christlich-jüdische Begegnung e.V. 2022 erhielt er die Otto-Hirsch-Medaille, die von der Stadt Stuttgart, der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW) und der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (GCJZ) für besondere Verdienste um die interreligiöse Zusammenarbeit vor allem zwischen Christen und Juden verliehen wird.   

Nach dem Theologiestudium und der zweiten theologischen Dienstprüfung 1961 war Metzger zunächst als Pfarrer in Stuttgart Bad Cannstatt tätig, bevor er 1968 die Leitung von Kloster Denkendorf übernahm, die er bis zu seinem Ruhestand 1997 innehatte. 

 
Dan Peter 
Sprecher der Landeskirche 

Hinweise: Bilder von Dr. Hartmut Metzger und Dr. Jochen Maurer finden Sie im Pressebereich unserer Webseite.