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„Kirche muss gesellschaftliche Beruhigungspflaster abreißen“ – EKD


Weshalb?

Weil die Pandemie viele ernste Fragen aufgeworfen hat. Fragen, die weit über den gegenwärtigen Ausnahmezustand hinausgehen, darunter durchaus Systemfragen. Ich denke an die noch nicht abzusehenden wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise. Zum einen werden gewaltige politische und finanzielle Anstrengungen unternommen, um drastische Einbrüche zu verhindern. Schnelle Maßnahmen, die auch kurzfristig wirksam sein müssen, um vor allem auch soziale Verwerfungen zu mildern. Zugleich steht in dieser Zeit, in der ohnehin viel infrage steht, auch die viel grundlegendere, viel langfristigere Frage im Raum, ob wir so weiter wirtschaften können wie bisher. Oder ob wir die nachhaltige Transformation vieler Wirtschaftszweige – etwa Mobilität, Energiesektor, Handel – jetzt nicht forcierter angehen müssen.

Ist das jetzt, da es vor allem darum geht, erst einmal Schlimmeres zu verhindern, nicht etwas zu viel verlangt?

Wann, wenn nicht jetzt? Gerade jetzt ist das Problembewusstsein geschärfter denn je. Die Automobilkrise stellt Grundfragen an unsere Mobilität. Die Missstände in der Fleischwirtschaft stellen Fragen an unseren Konsum auf Kosten von Tieren, Menschen und der Umwelt. Und das sind ja nur zwei Beispiele für hochproblematische Entwicklungen, die lange bekannt waren, aber nun, in der Krise, gewaltigen Handlungsdruck erzeugen. In diesem Druck liegt auch eine Chance: Jetzt, da sich die Probleme nicht mehr beiseiteschieben lassen, müssen wir gründlicher, wahrhaftiger über unsere Form des Wirtschaftens nachdenken. Wir müssen dabei auch unsere entfesselte Wachstumslogik, die zunehmende Ökonomisierung all unserer Lebensbereiche infrage stellen. Und auch unsere ganz persönliche Haltung zu Konsum und Komfort.

Zugleich hat diese Wachstumslogik für breiten Wohlstand in der Gesellschaft gesorgt. Sägen wir durch ihre Infragestellung nicht den Ast ab, auf dem wir sitzen – mit womöglich verheerenden Folgen für die Schwächsten in der Gesellschaft?

Natürlich besteht die Gefahr, dass soziale Brüche, die in der Corona-Krise ebenfalls offenkundiger werden, sich weiter vertiefen. Deshalb muss eben dieser gestärkte Gemeinsinn, von dem ich eingangs sprach, weiter an Bedeutung gewinnen. Dieser Gemeinsinn darf ruhig auch darin zum Ausdruck kommen, dass Erfolgreiche und Vermögende bereit sind, noch mehr Verantwortung zu übernehmen. Wirtschaftsforscher fordern bereits seit längerem einen noch stärkeren Dialog über gesellschaftliche Verantwortung mit Vermögenden.

Also etwa durch eine Reichensteuer?

Wie auch immer man es konkret nennen mag: Soziale Gerechtigkeit wird immer auch im Steuersystem erkennbar werden.

Welche Rolle kann die Kirche in dieser von Unsicherheit, aber auch von Übergang und sich abzeichnendem Wandel geprägten Zeit übernehmen?

Zunächst einmal: Hoffnung vermitteln. Gottvertrauen, und darin das Vertrauen, dass wir auch in dieser Phase der Ungewissheiten getragen und geborgen sind. Hoffnungsstiftende Verkündigung bleibt eine zentrale Aufgaben der Kirche. Und die Seelsorge ist die Muttersprache unserer Kirche. Darüber hinaus kann Kirche aber auch zu einer starken Kraft im Wandel werden. Sie kann Mahner, Mittler und Motor sein.

Zum einen auf der institutionellen Ebene, als verlässliches Gegenüber von Politik, Verbänden und gesellschaftlichen Interessengruppen. Aber auch beharrliche Stimme im großen Diskurs. Eine Stimme, die auf Wahrhaftigkeit, Bewahrung der Schöpfung und soziale Gerechtigkeit pocht. Die ethische Brüche und Schieflagen anspricht und durchaus auch mal das eine oder andere gesellschaftliche Beruhigungspflaster abreißt.

Zum anderen beweist Kirche aber auch vor Ort handfest, dass sie ein Motor für Kreativität und Veränderung, für nachhaltiges Denken und Handeln ist. Wie das geht, zeigen Zigtausende Kirchengemeinden allein in Deutschland. Das sind nicht nur geistliche Kraftorte, sondern auch Zentren des sozialen und kulturellen Lebens im Dorf, im Stadtviertel. Gemeinschaften, die sich einsetzen für die Flüchtlingshilfe, den Umweltschutz, die Unterstützung armer und bildungsferner Menschen, die gemeinsam singen und feiern: Das sind nur einige Facetten von Gemeinde. Dort ist an gutem, nachbarschaftlichem Leben im kleinen Maßstab zu erleben, was ich mir für die ganze Gesellschaft wünsche.