Bielefeld (epd). Mit Blick auf die Flüchtlingskrise im Jahr 2015 wirbt die westfälische Präses Kurschus dafür, die positiven Auswirkungen stärker in den Blick zu nehmen. Die Krise habe vielerorts dazu geführt „klüger und besser zu werden“, zudem seien Menschen motiviert worden, sich persönlich einzusetzen und das Land von seiner guten Seite zu zeigen, sagte Kurschus dem Evangelischen Pressedienst (epd). Zugleich dürften Probleme nicht verschwiegen werden, mahnte Kurschus, die auch stellvertretende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ist.
Annette Kurschus im Gespräch mit Holger Spierig (epd)
Vor fünf Jahren, im Jahr 2015, kamen nach der Zuspitzung der Lage im Bürgerkriegsland Syrien Hunderttausende Flüchtlinge nach Deutschland. Wie bewerten Sie heute die Situation vor fünf Jahren?
Kurschus: In mancher Hinsicht ähnelt die Situation, die wir gegenwärtig erleben, den Wochen und Monaten zwischen Herbst 2015 und Frühjahr 2016. Sie öffnet uns die Augen für die drängenden Fragen und die großen Herausforderungen, vor denen wir in unserem Land und in unserer Gesellschaft, in Politik und Kirche stehen. Die große Zahl der Menschen, die binnen kurzer Zeit zu uns kamen, hat die Kapazitäten und Möglichkeiten von Verwaltungen und Behörden, auch unser gesellschaftliches Miteinander auf harte Proben gestellt – und hier und da spürbar an Belastungsgrenzen gebracht.
An was denken Sie dabei konkret?
Kurschus: Wer bisher gedacht hatte, ein Kontinent wie Europa und ein Land wie Deutschland könnten sich gewissermaßen „wasserdicht“ machen gegen die Not in der Welt und sich abschotten gegen alle, die dieser Not entfliehen wollen, wurde eines Anderen belehrt. Insofern ist der Begriff Flüchtlingskrise durchaus berechtigt. Immerhin öffnen uns Krisen die Augen für Abgründe, die wir nicht sahen oder nicht sehen wollten. Aber auch – und das ist mir ebenso wichtig – für unsere Chancen und Potenziale.
Krisen verlangen von uns, genau hinzusehen, hinzuhören und neu nachzudenken, angemessen zu reagieren und verantwortungsvoll zu handeln. In unserer Kirche haben wir seit 2015 neu entdeckt und neu danach zu fragen begonnen, wie plural und vielfältig der christliche Glaube in Deutschland und entsprechend auch unsere Evangelische Kirche längst schon ist.
Wie bewerten Sie die Vorwürfe, der Staat habe in der Flüchtlingspolitik versagt?
Kurschus: Wenn im Blick auf den Herbst 2015 von Staatsversagen, von einer Herrschaft des Unrechts oder Ähnlichem die Rede ist, kann ich das überhaupt nicht nachvollziehen. Mich hat – im Gegenteil – beeindruckt, wie engagiert Politik und Gesellschaft, Kirchen und Flüchtlingsinitiativen in dieser Zeit zusammengewirkt haben. Die Förderung im Bereich der Sprachkenntnisse von Geflüchteten der Jahre 2015 und 2016 etwa ist deutlich effizienter gelungen als bei früheren Zuwanderergenerationen. Hier wurden wichtige und richtige Maßnahmen rechtzeitig ergriffen, was sich nicht zuletzt auf fruchtbare Weise in der vielfach gelungenen Arbeitsmarktintegration zeigt.
Wie fällt Ihre Bilanz der „Flüchtlingskrise“ und „Willkommenskultur“ aus?
Kurschus: Die Flüchtlings-„Krise“ hat an vielen Stellen dazu geführt, klüger und besser zu werden, hat Menschen motiviert, sich persönlich einzusetzen und unser Land von seiner guten, seiner besten Seite zu zeigen. Manche halten es für blauäugig, dies anzuerkennen, sich darüber zu freuen und dafür dankbar zu sein. Ich halte es für notwendig. Nur so lässt sich die ganze Wirklichkeit wahrnehmen. Damit reden wir nichts schön. Zweifellos bleiben Fragen. Zweifellos braucht Integration weiterhin einen langen Atem.
Welche Lehren sollten aus dieser Zeit gezogen werden?
Kurschus: Ich wünsche mir, dass wir aus falschen Scheinalternativen herausfinden. Wir haben eine Krise der politischen Kultur in unserem Land, teilweise auch eine Krise der Humanität. Diese Krise ist im Inland entstanden und wurde von Einheimischen geschürt – und zwar zu einem Zeitpunkt, als längst schon deutlich weniger Menschen nach Europa und nach Deutschland kamen. Diese Krise hat Maßstäbe verschoben, was nicht nur Geflüchtete besonders schmerzlich zu spüren bekommen.
Was ergeben sich daraus als Aufgaben für die Zukunft?
Kurschus: Es ist eine bleibende Aufgabe, Migration in unserem Land und auf unserem Kontinent nüchtern, optimistisch und mitmenschlich zu gestalten. Wir Kirchen machen uns dabei für die Würde der geflüchteten Menschen stark, weisen auf ihre Bedürfnisse wie auf ihre Begabungen hin, stehen für Menschlichkeit ein. Das geschieht im Kleinen, Alltäglichen vor Ort. Es geschieht auch durch starke öffentliche Zeichen – etwa im Rahmen der Seenotrettung oder beim Kirchenasyl. Ich danke ausdrücklich allen, die nun schon über Jahre hinweg aufbringen, was Integration dringend braucht: langen Atem, Hartnäckigkeit und die Freude am Anderen.