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Wir müssen uns fragen, wie wir leben wollen – EKD


Was ist Ihnen dabei besonders wichtig?

Annette Kurschus: Ein Blick in andere Länder zeigt: Da, wo Unfreiheit herrscht und die Lust an der Lüge regiert, darf auch die unbequeme Wahrheit über das Virus nicht zur Sprache kommen. Dies alles gehört wohl zusammen. Bisweilen wird von einer “Strafe des Himmels” gesprochen. Ich würde es so nicht ausdrücken. Die Frage nach Gott in all dem Geschehen kann und mag ich aber dennoch oder gerade deshalb nicht leichtfertig beiseiteschieben. Und ebenso wenig die selbstkritische Frage: Wie wollen und wie können wir verantwortlich leben – so dass auch unsere Kinder und Kindeskinder noch eine fruchtbare und lebenswerte Erde vorfinden?

Die Corona-Ausbrüche in der Fleischindustrie haben die Arbeitsbedingungen sowie die Behandlung der Tiere in den Fokus gerückt. Welche Änderungen in der Fleischindustrie sind aus Ihrer Sicht nötig?

Annette Kurschus: In den Landkreisen Gütersloh und Warendorf waren ganze Städte und Landkreise, Schülerinnen und Urlauber, Seniorinnen und Behörden wegen eines sprunghaft steigenden Infektionsgeschehens in einer Großschlachterei der Region von neuen Einschränkungen und Schließungsmaßnahmen betroffen. Das hat viele erzürnt und verärgert. Allerdings: Die unhaltbaren Zustände im betroffenen Betrieb – und längst nicht nur dort! – waren seit langem bekannt. Wir machen es uns zu einfach, wenn wir jetzt mit dem Finger auf “die” Fleischindustrie, “die” Landwirte oder “die” Politik zeigen.

Was sollten die Konsequenzen sein?

Annette Kurschus: Wir alle sind in unserem Konsumverhalten gefragt. Wenn wir im Supermarkt, an der Fleischtheke, bei der Eierfrau oder am Spargelstand stehen, brauchen wir einen Blick dafür, wie kostbar unsere Lebensgüter sind, welchen Preis sie verdienen – und wie teuer uns letztlich sämtliche Billigproduktion zu stehen kommt. Ich muss mich entscheiden: Will ich das Schnäppchen und lasse mir alles Weitere egal sein? Oder will ich das Nachhaltige und Werterhaltende – und kaufe dafür etwas weniger? Natürlich benötigen wir als Verbraucher für unsere Entscheidungen verantwortliche politische Rahmenbedingungen und klare Vorgaben – notfalls mit strengen Gesetzen und nachprüfbaren Regeln.

Wie bewerten Sie Vorstöße, wegen der Verluste durch die Corona-Krise weitere Sonntage für Ladenöffnungen zu ermöglichen?

Annette Kurschus: Der Einzelhandel in den Städten und Orten hat es schwer. Dies galt vor Corona, es gilt jetzt und das wird, seien wir ehrlich, auch nach der Pandemie so sein. Auch hier beschleunigt die Pandemie Entwicklungen, die längst im Gange waren. Ich habe großen Respekt vor den Unternehmern und Ladeninhaberinnen im Einzelhandel, die in dieser Ausnahmesituation mit verlässlichen Löhnen und guten Arbeitszeiten für ihre Angestellten sorgen und sich für das wirtschaftliche Leben in unseren Dörfern und Städten einsetzen. Und ich kann nachvollziehen, wenn sich Kommunen und Gesetzgeber bemühen, die während des Lockdowns ausgefallenen verkaufsoffenen Sonntage ausnahmsweise nachzuholen. Ausnahmsweise wohlgemerkt. Zur Regel darf dies nicht werden.

Warum ist ein grundsätzlich arbeitsfreier Sonntag auch heute noch wichtig?

Annette Kurschus: Es bleibt von hohem Wert, wenn unsere Gesellschaft an einem gemeinsamen Tag in der Woche innehält und auf diese Weise deutlich macht, dass das Leben mehr ist als Arbeiten und Einkaufen. Offene Läden am Sonntag lohnen sich wirtschaftlich nur dann, wenn dadurch noch mehr gekauft und konsumiert wird als in einer Sechstagewoche. Dieser dauernde Drang zum Mehr hat bekanntlich gefährliche Konsequenzen. Für den Einzelnen – und für die gesamte Schöpfung. Dafür hat uns die Pandemie erneut alle Sinne wachgerüttelt.

Holger Spierig (epd)