Zum 75. Jahrestag des Stuttgarter Schuldbekenntnisses haben der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm und Landesbischof Frank Otfried July in einem zentralen Gedenkgottesdienst auf eine wegweisende Selbstanklage zurückgeblickt, die nach Ende der Nazi-Gräuel und kirchlicher Versäumnisse erste Türen wieder öffnete:
„Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“
In seiner Predigt in der Stuttgarter Markus-Kirche machte Heinrich Bedford-Strohm deutlich: „Es ist mehr als ein liturgisches ‚mea culpa‘, es ist Ausdruck der existenziellen Dunkelheit, die die Verfasser des Stuttgarter Schuldbekenntnisses angesichts der Abgründe der Jahre des Dritten Reiches stellvertretend für viele vor nun 75 Jahren zum Ausdruck gebracht haben. Bekennen, Beten, Glauben und Lieben – darin, so erklärten sie, haben wir versagt. Wir haben in unserer gesamten christlichen Existenz gefehlt, umfassend, und nun steht alles auf dem Spiel.“ Eine Erinnerung an das Stuttgarter Schuldbekenntnis könne es nicht geben, ohne seine Defizite zu benennen, allen voran das Fehlen einer expliziten Benennung der Schuld an den Juden.
Eindrucksvoll schilderte der EKD-Ratsvorsitzende seine Empfindungen beim Besuch in Auschwitz/Birkenau: „Der Ort überträgt das Unfassbare, was dort geschehen ist – die Tränen, das Flehen, das Rufen, die Verzweiflung, das Blut, das zum Himmel schreit – bis ins Heute. Und zugleich zeugt der ganze Ort von der Unmenschlichkeit der Täter und Täterinnen.“
Dort sei spürbar geworden, so Bedford-Strohm: „75 Jahre sind angesichts dieser Vergangenheit, dieser Taten gar nichts, ein Windhauch nur. Die Frage, ob es noch immer an der Zeit ist, dieses Gedenken aufrecht zu erhalten, stellt sich nicht. Die Erinnerung an die Schuld, die Einsicht in die große Verantwortung, gehört seit 1945 in die DNA der Evangelischen Kirche.“
Doch Gott habe die Welt und die Menschheit nicht fallen lassen, sagte Bedford-Strohm. „Aus seiner Versöhnung leben wir. 75 Jahre nach der Stuttgarter Schulderklärung ist die Schuld nicht vergessen. Doch es ist etwas Neues geworden. Durch Gottes Gnade. Und durch menschliche Versöhnungsbereitschaft.“
Landesbischof Frank Otfried July hob in seinem Eingangswort die Bedeutung des 1945 recht umstrittenen Dokumentes hervor und räumte zugleich ein, dass es blinde Flecken habe: „Kein Wort zur Verfolgung und Vernichtung des Judentums in Europa, kein Wort zur Verfolgung der Sinti und Roma, kein Wort zu Kriegsgräuel, kein Wort zur Verfolgung anderer Minderheiten.“ Eine große Verbreitung der Stuttgarter Erklärung sei zunächst wohl gar nicht vorgesehen gewesen, und es habe noch Jahrzehnte gebraucht, bis das ganze Unrecht wirklich präsent war.
Aber so wahr dies alles sei, sagte der Landesbischof weiter, so wahr sei es auch, „dass die württembergische Landeskirche – wie auch die EKD – die Stuttgarter Erklärung als Erbe und Auftrag sieht, eine zutiefst der Ökumene verpflichtete Kirche zu sein und immer neu zu werden“. Der Auftrag bleibe, „für die Würde eines jeden Menschen einzutreten, aus dem Glauben an Gottes Schöpfung, Rassismus, Antisemitismus und Ausgrenzung zu bekämpfen und für Versöhnung, Gerechtigkeit und Frieden einzutreten“ sowie „eigene Schuld und Versagen zu benennen, um uns durch Gottes Geist erneuern zu lassen“.
Der Interims-Generalsekretär des Ökumenischen Rats der Kirchen Ioan Sauca aus Genf, der aufgrund der Corona-bedingten Einschränkungen nicht persönlich anwesend sein konnte, betonte in einem Grußwort die historische Bedeutung des 75 Jahre alten Textes: „Was damals hier in Stuttgart geschah, hat mit dazu beigetragen, dass heute zwischen Karlsruhe und Straßburg eine Brücke des Friedens Deutschland und Frankreich über den Rhein hinweg verbindet. Wir sind dankbar, dass in der Mitte Europas Frieden herrscht.“
Gedacht war die von Otto Dibelius und Hans Asmussen verfasste Stuttgarter Erklärung vom 18./19. Oktober 1945 zunächst vor allem als ein geistlicher Neuanfang. Doch mit ihrem Eingeständnis einer „Solidarität der Schuld“ und der Einsicht: „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker gebracht worden“ wurde sie zur Basis für eine ökumenische Wiederannäherung nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Erklärung gilt heute als Grundlage für einen Neuanfang der deutschen evangelischen Kirche in der internationalen Gemeinschaft sowie für eine Verantwortungsübernahme der Kirche in der Gesellschaft.
Hannover/Stuttgart, 16. Oktober 2020
Pressestelle der EKD
Fotos von der Veranstaltung finden Sie ab 16:00 Uhr im Pressebereich der Evangelischen Kirche in Württemberg; ebenso von Landesbischof July; Fotos vom EKD-Ratsvorsitzenden Bedford-Strohm finden Sie im Pressebereich der EKD