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Rede beim Sommerempfang des EKD-Büros in Brüssel am 12. Juli 2022 – EKD


II.

In einer solch schwierigen und hochkomplexen Gemengelage fragen viele Menschen nach ethischer und politischer Orientierung. Und viele möchten – weil sie schwer aushalten können, dass alles so kompliziert ist – gern einfache und klare Antworten, am besten im Ja-Nein-Schema. Die  Geschwindigkeit wird vom Newsticker bestimmt, also ist die Versuchung groß mitzutickern. Und weil die Meinungen am meisten gehört werden, die im Sirenenton verbreitet werden, ist die Versuchung groß mitzuheulen. Ich mache da nicht mit. Es stimmt: Entscheidungen müssen getroffen und Fragen müssen beantwortet werden. Aber ich weigere mich, die komplizierte Wirklichkeit simpel zu machen und meine Antworten auf komplizierte Fragen einzudampfen auf ein verkürzendes Ja – Nein, Entweder – Oder.

Ich spreche zu Ihnen als Theologin, als Frau der Kirche mi Leitungsverantwortung. Ja, auch wir müssen Antworten geben, aber anders als Politiker und Politikerinnen. Menschen in den Parlamenten und Regierungen stehen, wenn ein Krieg ausbricht, unter dem unmittelbaren Druck, sofort zu entscheiden und blitzschnell zu handeln. Das ist die Macht und zugleich die Ohnmacht in einem politischen Amt, das ist seine Würde und seine Bürde. Alle, die ein poliisches Amt bekleiden  und verantworten, haben meinen größten Respekt. Unsere Aufgabe als Kirche ist es, eine Perspektive jenseits und frei von Reiz-Reaktions-Zwang einzunehmen. Das hat eine andere Würde und Bürde, ist auf andere Weise Macht und Ohnmacht zugleich. Wir können, wir müssen aber auch nicht unsere Hand heben für oder gegen Waffenlieferungen, für oder gegen Sanktionen usw. Es ist eine andere Verantwortung, die wir kirchlicherseits haben, aber es ist auch: Verantwortung. Auch wir dürfen nicht ohne Antwort lassen, was drohend auf uns zukommt. Wir können und wir müssen es uns leisten, von dem zu reden, was Politiker und Politikerinnen nicht können: von den Zweifeln an vernünftigen Maßnahmen, von der Ambivalenz eindeutiger Entscheidungen, vom Frieden, der höher ist als unsere Vernunft, von der Notwendigkeit der Versöhnung auch und gerade da, wo sie nach menschlichem Ermessen keine Chance hat. Wir reden nicht im Modus des parteipolitischen Kalküls, sondern im Bewusstsein der Kontingenz der Geschichte und der Möglichkeit der Umkehr. Und wir äußern uns in dem Glauben, dass Christus uns in den Geringsten begegnet, die weder Macht noch Stimme haben.  Wir haben als Christen nicht nur mit Gott zu reden, etwa im Gebet, wir haben aus dem Gespräch mit Gott heraus auch die klare Pflicht, in die Welt hinein zu sprechen. Klar und zur Sache soll sie sein, unsere öffentliche Rede von Gott, erkennbar aus dem Glauben heraus. Nicht so, dass wir abkanzeln und moralisieren und dämonisieren, sondern so, dass uns abgenommen wird, wie sehr wir darum ringen, Gott zu hören, in der Spur Jesu gute Wege zu finden, verantwortliche eigene Worte zu wagen.

Zu den Fragen, die wir auch als Evangelische Kirche diskutieren und in den europäischen Kontext einbetten müssen, zählen die nach der Verwendung öffentlicher Gelder für militärische Ausrüstung und nach der Legitimität von Waffenlieferungen an die Ukraine. Wir fragen danach, wie wir unsere Haltung zur Bundeswehr (neu) verorten und die Rolle des Militärischen in einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur offener und differenzierter bewerten können. Ebenso setzen wir uns damit auseinander, wie die notwendige ökologische Transformation sozial gestaltet werden kann, so dass der notwendige Verzicht nicht zu Lasten der Ärmsten in der Gesellschaft geht.

Und ich frage darüber hinaus: Könnte es im gegenwärtigen Streit um Krieg und Frieden die Aufgabe von Christinnen und Christen sein, sich als Anwälte und Anwältinnen der Unverfügbarkeit zu verstehen? Also ausdrücklich dem Nichtwissen das Wort zu geben, der Skepsis ihr Recht einzuräumen, und, wie schon angedeutet, dem Zweifel den Platz freizuhalten?

Es geht um Hoffnung. Und zwar um eine Hoffnung, die realistisch mit den menschlichen Möglichkeiten und Grenzen umgeht. Dies ist mein Zugang, um eine christlich verantwortete Haltung zu gewinnen zu den ethischen Fragen rund um den Krieg in der Ukraine. Aporien und Dilemmata müssen akribisch benannt werden. Gerade das macht ja die Bibel so stark: Sie löscht die offensichtlichen Widersprüche nicht aus ihren Texten. Im Gegenteil: Die Bibel lässt Widersprüche bewusst nebeneinanderstehen, bringt sie in Dialog miteinander und hebt sie auf in einer größeren Wahrheit. Ebenso die christliche Theologie: Sie beansprucht die Wahrheit nicht in einem Entweder-Oder, sondern nähert sich ihr dialektisch. Sie bekennt, Jesus sei wahrer Gott und wahrer Mensch. Sie nennt das Kreuz Erniedrigung und Erhöhung. Sie spricht vom Schon und Noch-nicht des Reiches Gottes. Sie weiß vom Menschen, dass er gerecht und der Sünde verhaftet ist. Gerade im Umgang mit dem Krieg in der Ukraine zeigt sich das in besonderer Schärfe, und so lassen sie mich heute in Anbetracht der begrenzten Zeit bei dieser einen Krise bleiben.

III.

Dieser Krieg hat das sicherheitspolitische und friedensethische Denken in Deutschland verändert. Er nötigt uns zu fragen, ob und wie einem Aggressor Einhalt zu gebieten ist, der das Recht mit Füßen tritt, sowohl die internationale Ordnung als auch die Rechte der Einzelnen. Die Berichte von den russischen Kriegsverbrechen sind erschütternd. Zum Entsetzen darüber tritt die Sorge, dieser Krieg, der trotz aller weltweiten Erschütterungen bislang ein regionaler Krieg ist, könnte zu einer weltweiten Auseinandersetzung eskalieren, womöglich unter Einbeziehung nuklearer Waffen. Im Moment ist diese Angst leiser ist als zu Beginn des Krieges. Das heißt aber nicht, dass sie weniger begründet ist. Sie kann sehr schnell wieder lauter werden, wenn es Europa nicht gelingt, die Kaliningrad-Krise zu entschärfen.

Die christlichen Kirchen haben sich nach den Erfahrungen der Gräueltaten des Nationalsozialismus und der Exzesse des Zweiten Weltkriegs um weltweite Verständigung untereinander bemüht. „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein“, lautete die immer wieder zitierte Botschaft der Gründungsversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen 1948 in Amsterdam. Der Göttinger Jurist und Kirchenrechtler Hans Michael Heinig hat jüngst in einem instruktiven FAZ-Beitrag deutlich gemacht, dass in dieser Aussage keineswegs einem radikalen Pazifismus das Wort geredet oder gar nachträglich dem Kriegseintritt der Alliierten im Zweiten Weltkrieg die Legitimation abgesprochen wurde.

Die Barmer Theologische Erklärung von 1934, das prominenteste Dokument des protestantischen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus und einer Neuorientierung evangelischer Ethik im 20. Jahrhundert, stellt fest: Der Staat hat nach Gottes Anordnung die Aufgabe, „in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen.“

Androhung und Ausübung von Gewalt sind aus Sicht des christlichen Glaubens strikt an die Aufgabe gebunden, für Recht und Frieden zu sorgen. In den 70er Jahren konzentrierte sich die friedensethische Diskussion darauf, ob es angesichts der Möglichkeit eines Atomkrieges überhaupt noch eine ethische Rechtfertigung militärischer Gewalt geben könne, oder ob konsequente Gewaltlosigkeit und die Ablehnung jedweder Form von Bewaffnung die gebotene Option für Christinnen und Christen sei. Diese leidenschaftlich geführte Auseinandersetzung wirkt bis in die heutigen innerkirchlichen Suchbewegungen nach. Sie mündet ein in die Einsicht: Für beide Optionen gibt es jeweils gute Gründe. Mitarbeit in der Bundeswehr und Verweigerung des Kriegsdienstes, Rüstung und zivile Friedensarbeit kamen als gleichberechtigte, komplementäre Handlungsweisen in den Blick. Auch die kirchliche Debatte zum Ukrainekrieg, zu Fragen der Waffenlieferungen ist geprägt von diesem  Spannungsverhältnis. Es rechnet realistisch mit dem Bösen im Menschen – und es gibt zugleich die Hoffnung auf Frieden im Horizont des Reiches Gottes nicht auf.

Wenn wir Christen von menschlicher Verstrickung in Sünde sprechen, gestehen wir ein, dass Menschen zu Gewalt und Unrecht neigen – und umgekehrt vor Gewalt und Unrecht geschützt werden müssen. Leben, Gerechtigkeit, Freiheit, Frieden sind hohe Güter. Sie zu schützen ist die Aufgabe des Staates. Notfalls auch mit Gewalt. Dabei sehen wir aber sehr nüchtern, bisweilen ernüchtert: Solcher Schutz und alle Hilfe zur Verteidigung sind ihrerseits mit Gewalt verbunden und stehen in Gefahr, neues Leid zu verursachen und sich schuldig zu machen. Dabei muss sich christlich gegründetes Handeln zugleich an Jesu Rede vom Reich Gottes und seiner Vision einer besseren Gerechtigkeit messen lassen.

Dieser doppelte Maßstab ist unser Kompass. Wir verfügen keineswegs über ein Wissen, das es uns erlauben würde, einzelne politische Optionen direkt aus der Bibel abzuleiten oder gar zum Willen Gottes zu erklären. Jedoch gibt der Kompass Orientierung und weist den Weg, indem er uns zumutet, stets aufs Neue abzuwägen. Er verlangt, immer neu auszuloten, wie tatkräftiges Eintreten für das Recht und die Würde von Menschen in Not balanciert werden kann mit dem nachhaltigen Einsatz für Frieden. Das ist mühsam! Denn in dieser unauflösbaren Spannung gibt es oft kein eindeutiges „Richtig“ oder „Falsch“.  Waffen verteidigen Leben und Recht, Waffen zerstören Leben und Recht: Dieses Dilemma lässt sich nicht einseitig auflösen.  

IV.

Ich kann Krieg nicht grundsätzlich gutheißen oder begrüßen, auch keinen Verteidigungskrieg, auch keine Waffenlieferungen. Das habe ich nie getan, auch wenn es mir bisweilen so in den Mund gelegt wurde. Ich werde in  dieser Sache jeden Ton des Jubels vermeiden. Aber es gibt Situationen, in denen ich die Entscheidung, Waffen zu liefern, als geringeres Übel für verantwortbar und vertretbar halte. Es ist geboten, der Sünde in Form von brutaler Gewalt und verbrecherischem Unrecht wirksam entgegenzutreten.

Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine hat die Europäische Union zu bis dahin nicht gekannter Geschlossenheit gefunden. Das spontane Zusammenrücken, die Einmütigkeit der Beschlüsse, die selbstverständliche große Hilfe, die vor allem die osteuropäischen Länder für Geflüchtete leisteten: all das hat sichtbar gemacht, wie viel Stärke Europa entfalten kann, und was da gemeinsam möglich ist. Dies stimmt mich hoffnungsvoll. Europa ist ein großes, ein einzigartiges Friedensprojekt, wirklich ein Weltwunder nach den Verheerungen der Kriege, die diesen Kontinent verwüstet hatten. Dieses Potential drohte unter dem Gezänk und den nationalen Egoismen der letzten Jahre in Vergessenheit zu geraten. Wir dürfen es aber nicht vergessen, niemals. 2012, vor zehn Jahren, wurde die EU mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Es war nicht nur ein Preis für die EU, es war ein Preis für ihre Bürgerinnen und Bürger. In der Begründung der Preisverleihung heißt es: „Das Norwegische Nobelkomitee wünscht den Blick auf das zu lenken, was es als wichtigste Errungenschaft der EU sieht: den erfolgreichen Kampf für Frieden und Versöhnung und für Demokratie sowie die Menschenrechte; die stabilisierende Rolle der EU bei der Verwandlung Europas von einem Kontinent der Kriege zu einem des Friedens.“ Ich lese dies durchaus mit gemischten Gefühlen im Rückblick auf die Entwicklungen seit 2012 – und mit Gänsehaut im Blick auf den gegenwärtigen Krieg in Europa.

Mich empört, wenn der Patriarch von Moskau einen Angriffskrieg als gottgewolltes Mittel darstellt, um seine seine nationalistische und imperialistische Sicht der Geschichte durchzusetzen. Gott in dieser Weise vor den eigenen Karren zu spannen, halte ich für Gotteslästerung. Es ist ein Verrat an dem, was ich als Maßtstab für die ethische Verantwortung des Staates aus christlicher Perspektive beschreiben habe: dem Bösen zu wehren und den Frieden zu suchen. Damit verurteile ich ausdrücklich nicht die gesamte russische Orthodoxie, die in sich sehr vielstimmig ist. Wir dürfen und werden die ökumenischen Brücken zu ihr nicht abbrechen. Denn irgendwann wird er kommen, der Tag „nach dem Krieg“, an dem noch lange nicht Friede sein wird. Dann ist die Zeit für Gespräche. Gut, wenn dann die Wege zueinander nicht völlig zugeschüttet sind. Europa ist eine Zukunftsaufgabe und zugleich ein bestimmter geografischer Ort. Es gehört zu unseren geografisch unabänderlichen Gegebenheiten, dass Russland auf alle Zeiten ein Nachbar sein wird. Wir dürfen das nicht vergessen.

Spiegelbildlich zu meiner Kritik an Kyrill bin ich auch skeptisch, wenn die Verteidigung der Ukraine pauschal als Verteidigung westlicher oder gar „unserer“ Werte idealisiert wird. Auch hier wittere ich eine geschichtstheologische Überhöhung des Krieges, eine moralische Eindeutigkeit, die mir suspekt ist. Die Menschen in der Ukraine verteidigen ihr Leben, ihre Freiheit und die Souveränität ihres Landes. Es stimmt: Die Verteidigung von Freiheit und Recht ist einen engagierten Streit wert. Aber dieser Streit muss sich unterscheiden von der Logik machtvoller Überwältigung, bösartiger Unterstellung und hasserfüllter Abwertung derer, die anders denken. Und allemal muss sich unsere Sprache freihalten von Dämonisierungen und Entmenschlichungen.

Ich bin froh, Deutschland im Kreis der 27 EU-Staaten zu wissen. Die Folgen des Krieges auf unsere Energie-, Klima-, Umwelt-, Agrar-, Asyl-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik und nicht zuletzt auf den sozialen Zusammenhalt sind enorm. Wir können sie nur gemeinsam als Europäerinnen und Europäer bewältigen. Ich ahne, welch eine riesige Kraftanstrengung das  für Sie alle bedeutet, die Sie als Gegenüber von und für die EU-Institutionen tätig sind. Sie haben in den letzten Monaten Ungeheures geleistet und tun dies weiter, damit diese Einigkeit möglich ist. Respekt!

Unsere Solidarität gilt denen, die am unmittelbarsten unter diesem Krieg leiden.  Wie soll das anders sein, da die Bibel uns immer und immer wieder auf die Geringen und auf die Gebeulten verweist und unser Herr ein Gekreuzigter, ein Gewaltopfer ist. Mich hat persönlich gefreut, dass mit Zustimmung sämtlicher EU-Mitgliedstaaten die Richtlinie über den vorübergehenden Schutz aktiviert worden ist, um Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine schnell und unbürokratisch in der EU aufzunehmen und in Bildung und Beruf zu integrieren. Solche Erfahrungen sollten unbedingt Schule machen auch für Flüchtlinge aus anderen Drittstaaten.

V.

Hoffnung ist ein rares Gut geworden. Viele haben das Hoffen verlernt, andere verbieten es sich bewusst. Und doch weigere ich mich zu verzweifeln. Es ist die Aufgabe von Christinnen und Christen, der Hoffnung den Platz frei zu halten, sie zu nähren und von ihr zu reden. Hoffnungslosigkeit ist ein Luxus, den wir uns nicht leisten können in unseren Zeiten. Dazu sind die Zeiten zu ernst. Es gibt eine Schwarzseherei, die sich darin ergeht, die Schlechtigkeit der Welt und die Aussichtslosigkeit der Verhältnisse auszumalen: dass alles immer schlimmer wird und dass Mühe sich nicht lohnt und der Einsatz ohnehin nicht zum Ziel führt. Solchen Fatalismus machen wir nicht mit.

In der Bibel lesen wir: Als alle Tiere die Arche Noah verlassen haben, auch die Sommerlochtiere, und die Wasser der Sintflut abgelaufen sind, da stellt Gott fest – und es ist eine sehr ernüchternde Feststellung, die er da trifft:

„Das Dichten und Trachten des Menschen ist böse von Jugend auf.“  Was für ein ungnädiger, unerbittlicher göttlicher Realismus spricht hier. Aber für Gott ist dieser Realismus kein Grund, an der Welt zu verzweifeln, im Gegenteil. Weil es so ist, verspricht er der Welt und den unverbesserlichen Menschen: „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“

Mit Gott will ich es halten und mich an ihn halten und mich anstecken lassen von seiner unverdrossenen Hoffnung für die Welt.

In diesem Sinne: Eine gesegnete Sommerzeit Ihnen allen!