Was,
verehrter Herr Bundespräsident Steinmeier,
ieber Herr Bischof Stäblein,
werte Damen und Herren,
vor allem aber: Lieber Wolfgang Huber,
was haben Babyklappe und Koma-Saufen, Dietrich Bonhoeffer und Schulanfang, Sterbehilfe, Moscheen, Fußballgott und Bundespräsident miteinander gemein? Die schlichte Antwort heißt: Sie alle waren Themen der wöchentlichen Kolumne, die Du, lieber Wolfgang, während Deiner Zeit als Ratsvorsitzender für die Berliner Zeitung geschrieben hast. Eine tiefergehende Antwort weiß: Klar Position zu beziehen – mitten im runden, vollen Menschenleben mit allem, was darin vorkommt –, darum ist es Dir immer gegangen. [1] Bis heute schaust Du in christlicher Freiheit und evangelischer Verantwortung weit über den kirchlichen Tellerrand hinaus – mitten hinein in die Welt, die Gottes Welt ist und bleibt. Und Du gibst Auskunft über die großen Fragen des Glaubens in einer Leichtigkeit, die nur jemand aufbringen kann, der diese Fragen mit tiefer Leidenschaft bewegt und mit scharfem Intellekt durchdrungen hat. Vor einigen Tagen bin ich zufällig auf ein Video gestoßen aus der Reihe „jung & naiv“. Es ist ziemlich genau fünf Jahre alt, dieses Video – und könnte genauso gut von heute sein. Geschlagene anderthalb Stunden habe ich gern und gebannt verfolgt, wie ein junger Mann auf genial neugierige Weise – und alles andere als naiv! – sehr viel von Dir wissen wollte. Buchstäblich über Gott und die Welt. Ehrlich und klug und geduldig hast Du ihm Rede und Antwort gestanden, mit Herz und Wärme, voll echter Sympathie für den jungen Frager. Ich saß da an meinem Küchentisch und wollte eigentlich etwas ganz anderes tun. Und hörte euch beiden fasziniert zu. Bis zum Schluss. Und es hat richtig gutgetan.
Linksprotestant hat man Dich genannt, Managertalent, Beinahe-Bundespräsident, Hofprediger. Sie sagen: Er ist ein progressiver Theologe mit konservativer Grundstruktur, ein demokratischer Restaurator der Allianz von Thron und Altar, ein leidenschaftlicher Ökumeniker, ein evangelischer Vordenker.
Höre ich Dir selber zu, stoße ich auf einen Menschen, der mit größtem Ernst um eine glaubwürdige Lebenshaltung ringt, und zwar um eine erkennbar christlich geprägte Zeitgenossenschaft.[2]
Dietrich Bonhoeffers Frage nach einer Haltung, die auf die Einheit von „theologische[r] Reflexion und verantwortete[r] Lebensgestalt ausgerichtet ist“, war Dir immer wichtiger als dogmatische Wahrheiten oder politische Positionen.
Du erzählst oft und gern von Menschen, die Deinen Weg gekreuzt haben.
Da ist der muslimische Junge, der als 13Jähriger nach London kommt, ohne ein Wort Englisch zu sprechen, und dort eine neue Heimat findet. Nur vier Jahre später wird er, von Mitschülern und Lehrern gleichermaßen geachtet, vom Londoner Bischof für seine herausragenden Leistungen geehrt. Der Bischof erzählt Dir später: „Familie, Glaube, Bildung, Gemeinschaft, diese vier Faktoren haben das Wunder vollbracht.“
Oder da ist der Mann aus Jamaica, erfolgreicher Bauunternehmer in der Nähe von Berlin, bis er – gejagt von rechtsradikalen Rassisten – einen folgenschweren Unfall hat. Eingesperrt in einen vollständig gelähmten Körper, setzt er sich ein für die Begegnung zwischen Jugendlichen verschiedener Nationen und Hautfarbe und wird für viele zum Vorbild.
Oder da ist der fromme Bäcker aus Reutlingen im stramm pietistisch geprägten Württemberg, den Du im Vikariat kennengelernt hast. Sonntags nach dem Gottesdienst in der Kirche besucht er die pietistische „Stund“ und passt auf herrlich handfeste Weise in die Welt.[3]
Was Menschen berührt und fasziniert, sind ja zuerst und zuletzt nicht die theologischen Wahrheiten, die wir verkündigen. Auch nicht die politischen Positionen, die wir vertreten. Es ist die spürbare Suche nach plausibler Lebensgestaltung, nach einer Haltung, die Glauben und Leben verbindet, nach einer Verantwortung, in der Denken und Handeln zusammenfinden – und die ausdrücklich das Oberlicht offenhält für das, was menschlichem Vermögen entzogen ist. Das braucht die Welt von uns Christinnen und Christen. Das braucht die Gesellschaft von der Kirche. Heute vielleicht dringlicher denn je.
Wie ein roter Faden zieht sich der Begriff der Freiheit durch Deine Texte und Reden und Impulse. Für eine „Kirche der Freiheit“ bist Du angetreten, für eine Ökumene der Profile „Im Geist der Freiheit“ hast Du geworben, um eine Freiheit hast Du gerungen, von der Perspektiven ausgehen für eine solidarische Welt.[3]
Nun segelt unter der Flagge der Freiheit bekanntlich allerlei – vom selbstbestimmten persönlichen Leben bis hin zur liberalen Grundordnung unseres Staates. Freiheit ist der Sehnsuchtsbegriff des modernen Menschen. Sie kann zugleich zur schweren Last werden, je mehr individualistische Engführung sie erfährt.
Du wirst dagegen nicht müde zu betonen: „Niemand ist für sich allein frei!“. Mit dem Begriff der „kommunikativen Freiheit“ hast Du moderne Freiheitssehnsucht und christliche Freiheitsverheißung konsequent aufeinander bezogen. Das war die Grundidee für eine zukunftsweisende Reform unserer Kirche.
In kommunikativer Freiheit hast Du immer wieder die Grenzen des binnenkirchlichen Raums überschritten. Du warst Dein Leben lang in Grenzbereichen zwischen Kirche und Gesellschaft unterwegs, sprachfähig als Impulsgeber hier und da. Und lange war offen, auf welcher Seite Du landen würdest. Noch 1993 stand mit dem Wechsel von Heidelberg nach Berlin zur Disposition, ob aus Dir am Ende ein politisch denkender Theologe im Bischofsamt oder ein theologisch denkender Politiker mit Bundestagsmandat werden sollte.
Aus kirchlicher Perspektive ist es dann am Ende gut ausgegangen …
Du bist ein „öffentlicher Theologe“ im Wortsinn dieser Bezeichnung: Ein Theologe eben, der seine Theologie öffentlich erkennbar lebt und in die Fragen der Welt einträgt. Ein Mensch, der so von Theologie und Glaube spricht, dass es eine breite Öffentlichkeit erreicht und angeht. Du kannst nicht nur Professor, Du kannst auch Bildzeitung. Und der interreligiöse Dialog ist Dir nicht weniger wichtig als die missionarische Sendung der Kirche. Nie hast Du ein Hehl daraus gemacht: Grundfragen von Religion und Theologie gehören nicht in private Hinterzimmer, sondern mitten hinein ins öffentliche Leben. Da wirken sie wie Salz in der Suppe und Licht in manchem Dunkel.
Wer die unglaubliche Liste Deiner Publikationen, Deiner zahlreichen Ämter und Ehrungen wahrnimmt, mag kaum glauben, dass Du gerade mal 80 Jahre alt bist. So jung? Anhand Deines reichen Lebenswerks müsste ich Dich älter schätzen. Aber wenn ich Dich heute hier sitzen sehe, dann geht es mir genau umgekehrt: So alt? Ich würde Dich unbedingt jünger schätzen. Eigentlich keine schlechte Kombination.
Am Ende bleibt mir der Dank. Ich danke Gott für Dein Leben. Für alles, was Dir in die Wiege gelegt und im Laufe der Zeit geschenkt wurde. Ich danke Gott, dass Du weder Bäcker noch Sänger geworden bist – was Du zeitweise vorübergehend in Erwägung gezogen hattest. So hoch ich Bäcker für ihr Handwerk achte und so sehr ich Sänger für ihre Kunst liebe: Als Pastor und Professor und Bischof hättest Du unserer Kirche doch schmerzlich gefehlt.
Ich danke Dir für alles, was Du uns weitergegeben und hier und da neu aufgeschlossen hast. Ich danke Deiner Frau und Eurer Familie, ohne die Du nicht der wärst, der Du bist.
Bleib Gott befohlen! Das sage ich Dir in der festen Zuversicht:
Es geht mit der Welt, es geht mit der Kirche, es geht mit uns allen, es geht mit Dir – Gott weiß, wohin.