Vorbemerkung
Der israelisch-palästinische Konflikt ist einer von zahlreichen Konflikten im Nahen Osten und auch in sich deutlich komplexer, als dass es nur zwei Seiten oder Parteien gäbe. Im Kontext des Konflikts entwickelt sich zunehmend eine Debatte um „BDS“, verbunden mit der Frage, inwiefern entsprechende Aufrufe, Handlungen und Maßnahmen antisemitisch sind. „BDS“ steht für Boycott, Divest-ment and Sanctions und geht zurück auf einen internationalen Aufruf der palästinensischen Zivilgesellschaft aus dem Jahr 2005. Unterstützt und initiiert wurde der Aufruf von palästinensischen Parteien, Verbänden und Organisationen als Erstunterzeichnern. Ziel der Kampagne ist, mittels verschiedener Boykottmaßnahmen auf Israel wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Druck auszu-üben, um Israel zur Änderung seiner Politik gegenüber dem palästinensischen Volk und zur Beendigung der Besatzung palästinensischer Gebiete zu bewegen. Es haben sich zahlreiche internationale Unterstützerkreise gebildet, wobei keine verantwortliche, zentral gesteuerte Gesamtorganisation besteht, die sämtliche Akteure und Aktionen koordiniert; entsprechend vielfältig und z.T. gegensätz-lich präsentieren sich die Unterstützergruppen der BDS-Kampagne bzw. -Bewegung. Seit Jahren rufen Akteure auch in Deutschland zum Boykott gegen Israel, gegen israelische Waren und Dienst-leistungen, israelische Künstlerinnen und Künstler, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Sportlerinnen und Sportler auf.
Im Kontext dieser Debatte bezieht der Rat der EKD nachfolgend Position.
1. Der Rat der EKD hält in der aktuellen Debatte um Israel und Palästina an seiner bisherigen Posi-tion fest und tritt für eine Zweistaatenlösung ein. Er tritt für eine doppelte Solidarität mit dem Staat Israel und dem palästinensischen Volk ein. Die EKD hält Kritik an politischen Leitlinien, wie auch an einzelnen konkreten Maßnahmen und gesellschaftlichen Missständen nicht nur für möglich, sondern sie gehört zur Verantwortung zwischen Partnern und Freunden. Maßstab ist dabei stets die Einhaltung der Standards der Menschenrechte und des Völkerrechts.
2. Die Evangelische Kirche lehnt Boykottmaßnahmen gegen Israel ab und beteiligt sich nicht an entsprechenden Projekten im Rahmen der BDS-Kampagne. Es gibt Methoden und Argumentationsmuster von BDS-Aktivisten und -Aktivistinnen in Deutschland, die antisemitisch sind oder israel- bzw. judenfeindliche Untertöne haben. Es kommt zu einseitigen Verurteilungen, wonach Israel die alleinige Verantwortung und Schuld in dem Konflikt zukomme. Gerade in Deutschland ist das Assoziationsfeld der NS-Aktion „Kauft nicht bei Juden“ praktisch unvermeidlich, wenn sich die Worte „Boykott“ und „Juden / jüdischer Staat / Israel“ verbinden. Wer durch sein politisches Reden und Handeln Existenzängste bei Nachfahren von Shoah-Überlebenden und -Opfern auslöst, kann nicht glaubhaft darlegen, Antisemitismus-Gefahren hinreichend ernst zu nehmen. Durch Boykottaufrufe gegen Firmen, Veranstalter und Organisationen werden bisweilen die Meinungs-, Kunst- oder die Wissenschaftsfreiheit eingeschränkt. Jüdische Gemeinden und Institutionen werden teils pauschal für die Politik des Staates Israel in Regress genommen. Solche Boykottaufrufe sind ein Hindernis für eine Friedenslösung, die Israels Fortbestand als demokratischer Staat und nationale Heimstätte des jüdischen Volkes ebenso garantiert wie sie die Rechte der Palästinenser in einem eigenen Staat gewährleisten muss.
3. Für die Haltung der Evangelischen Kirche spielt die besondere historische Verantwortung Deutschlands, die auch den Kirchen aus ihrer eigenen Geschichte erwächst, eine grundlegende Rolle. Sie ergibt sich für die Evangelische Kirche aus ihrem eigenen historischen Versagen gegenüber den Juden. Israel hat für das deutsche Selbstverständnis seit Ende des Zweiten Welt-krieges eine fundamentale Bedeutung. Anhand von Israel reden wir immer auch über „uns“ und „unsere Lehre“ aus Auschwitz. Dies unterscheidet die Diskussion in Deutschland von der internationalen Debatte, aber auch von der Art und Weise, in der der Konflikt in Israel und Palästina von den Betroffenen selbst erlebt wird.
Im letzten Jahrzehnt beobachten wir in Deutschland mit Sorge und Entsetzen eine Zunahme antisemitischer verbaler Aus- und gewaltsamer Überfälle. Neben einem selbstkritischen Umgang mit unserer eigenen Geschichte und Tradition sehen wir uns daher in der Verantwortung, allen Formen von Antisemitismus sowohl in den eigenen Reihen wie auch in unserer Gesellschaft entschieden entgegenzutreten. Das betrifft auch unser Verhältnis zu Israel. Diese besondere Verantwortung der evangelischen Kirchen in Deutschland unterscheidet sich daher prinzipiell von der Position anderer Kirchen mit anderen historischen Erfahrungen und in anderen politischen Kontexten.
4. Der Staat Israel und seine Politik dienen häufig als Projektionsfläche für antisemitische Ressentiments unterschiedlicher Provenienz (rechtsradikal, linker Antizionismus, islamistisch). Kritik an Israel hat insofern einen judenfeindlichen Resonanzraum. Es ist deshalb unerlässlich, eine konkrete Diskussion darüber zu führen und jeweils im Einzelfall zu überprüfen, wo die Grenzlinien zwischen legitimer Kritik, konstruierten Feindbildern und judenfeindlichen Ressentiments liegen. Dafür gibt es zahlreiche Kriterien und Indikatoren, die herangezogen werden können. So bieten die Broschüren der EKD „Antisemitismus. Vorurteile, Ausgrenzungen, Projektionen und was wir dagegen tun können“ und der evangelischen Akademien in Deutschland „Antisemitismus und Protestantismus. Impulse zur Selbstreflektion“ eine Orientierung. In einer Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance werden konkrete Beispiele dafür genannt, dass Kritik an der Regierungspolitik Israels antisemitisch ist, wenn sie offenkundig mit unterschiedlichen Maßstäben misst („Doppelte Standards“), wenn sie Israel das Existenzrecht abspricht (De-legitimation) oder wenn Israel dämonisiert wird (z.B. durch NS-Vergleiche).
Diese Kriterien und Indikatoren dienen der Orientierung und der Versachlichung des Streits, nicht der Diffamierung abweichender Meinungen.
5. Die EKD registriert mit großer Sorge, dass sowohl proisraelische als auch propalästinensische Unterstützergruppen in Deutschland ihre Positionen in immer ausschließenderer Weise vertreten und dass das gesellschaftliche Diskussionsklima zum Thema Israel und Palästina immer stärker vergiftet wird. Der Streit ist häufig geprägt durch eine Tabuisierung und Skandalisierung abwei-chender Meinungen und durch eine Verhärtung der Fronten, die Verständigung und Differenzierung kaum mehr zulassen. Der kommunikative Strukturwandel in Zeiten der Digitalisierung (social media) trägt dazu bei, dass Hassbotschaften und wechselseitige Verurteilungen zunehmen. Mediale Echokammern dienen der Selbstimmunisierung und Selbstbestätigung und zerstören Verständnis- und Verständigungsbereitschaft.
6. Die EKD sieht als Anliegen des BDS-Gründungsaufrufs von 2005 das Bekenntnis zu Gewaltfreiheit, den Einsatz für Menschenrechte und das Ziel eines gerechten Friedens in Israel und Palästina. Sie sieht zugleich mit Sorge, dass sowohl im Gründungsaufruf als auch in der Bewegung selbst eine klare Abgrenzung gegenüber einer einseitigen Kritik fehlt, die auf eine Delegitimation des Staates Israel und seine Dämonisierung als jüdischem Staat hinausläuft und damit von einer antisemitischen Haltung nicht mehr unterscheidbar ist und einseitige Bewertungsmaßstäbe anlegt. Sie verurteilt es, wenn BDS-Vertreter und -Vertreterinnen aggressiv auftreten und Druck auf staatliche und nichtstaatliche Institutionen, Veranstalter, Unternehmen etc. ausüben, sich dem grundsätzlichen Boykott gegen Israel anzuschließen.
7. Im Interesse einer friedlichen Regelung des israelisch-palästinensischen Konfliktes, an der gerade Deutschland interessiert sein muss und ist, bedarf es einer differenzierten Sicht auf Ursachen, Verantwortlichkeiten, aber auch auf Unversöhnlichkeiten und unauflösbare Gegensätze. Es bedarf ernsthafter Bemühungen und Sensibilität in der wechselseitigen Wahrnehmung und in der Anerkennung legitimer Bedürfnisse, Interessen, Motivationen und Sichtweisen aller Beteiligter. Es braucht ein hohes Maß an Nüchternheit, Sachlichkeit, Differenziertheit aber auch Einfüh-lungsvermögen und Sensibilität als Basis für einen Dialog, der gegenseitiges Verstehen und Verständigung ermöglicht.
8. Die EKD und ihre Evangelische Mittelost-Kommission sind seit Jahrzehnten bemüht, Dialogfähigkeit und Dialogräume zwischen Gruppen und Organisationen zu stärken, die sich der Solidarität entweder mit Israel oder mit Palästina verpflichtet fühlen. Sie unterstützt sowohl in Deutschland wie auch in Israel und Palästina alle Maßnahmen, die dem Aufbau von Vertrauen, dem Dialog und der Verständigung sowie der Versöhnung zwischen dem israelischen und palästinensischen Volk dienen. Die EKD ermutigt Gemeinden und Einrichtungen weiterhin, bzw. angesichts der zunehmenden Polarisierung verstärkt, solche Dialogfähigkeit zu fördern und jene Vertreterinnen und Vertreter aller Positionen zu Veranstaltungen einzuladen, die bereit sind zu einem konstruktiven Dialog, zu fairer Kritik und Selbstkritik und zu einem respektvollen Umgang mit anderen Auffassungen und Meinungen. In einem solchen Dialog haben Positionen sowie Vertreter und Vertreterinnen, die einseitig Israel diffamieren und dämonisieren oder antisemitische Positionen einnehmen, ebenso wenig Raum wie jene, die jegliche Kritik an der Regierung Israels und ihrer Politik als judenfeindlich zurückweisen und unter einen antisemitischen Generalverdacht stellen.
9. Die EKD ist auf verschiedene Weise – bis hin zu vertraglich geregelten Kirchengemeinschaften oder auf der Ebene der Kirchlichen Weltbünde – auch mit ökumenischen Partnern verbunden, die sich als Teil der BDS-Bewegung verstehen, einzelne Maßnahmen wie etwa einen Investitionsentzug umgesetzt haben oder BDS-Maßnahmen unterstützen. Dieses Engagement kann die erwähnten ökumenischen Partnerschaftsbeziehungen nicht in Frage stellen. Die EKD wird vielmehr ihre kritisch-differenzierte Haltung zur BDS-Bewegung ebenso ins Gespräch bringen, wie ihre Partner dies tun. Eine sachliche Auseinandersetzung darüber, wie die ökumenisch gemeinsam angestrebten politischen Ziele eines gerechten Friedens für die Region am besten erreicht werden können, muss möglich sein.
10. Die Kritik an der BDS-Kampagne darf nicht dazu führen, die Arbeit bzw. Unterstützung anerkannter israelischer, palästinensischer und internationaler Organisationen einzuschränken. Die EKD unterstützt israelische und palästinensische Menschenrechtsorganisationen; sie fördert humanitäre und soziale Dienste in den besetzten palästinensischen Gebieten und engagiert sich gemeinsam mit Partnern vor Ort für Versöhnung und Verständigung zwischen Israelis und Palästinensern.
Hannover, den 29. Februar 2020