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„Die evangelische Kirche hatte die Wächterfunktion gegenüber dem NS-Staat nicht wahrgenommen“ – EKD


Nach dem Krieg wollte die evangelische Kirche mit dem Stuttgarter Schuldbekenntnis[HC1]  vom Oktober 1945 einen Schnitt machen und bekannte sich zu einer Mitschuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus. War das glaubwürdig?

Das ist ein schwieriger Punkt. In der Forschung gab es eine große Diskussion, ob das Kriegsende  ein wirklicher Neuanfang war oder zu einer Fortschreibung alter Verhältnisse führte. Nach Kriegsende wurde erkannt: Man hatte die Wächterfunktion gegenüber dem NS-Staat nicht wahrgenommen. Außerdem war man innerhalb des Protestantismus in der NS-Zeit gespalten in eine Vielzahl von Gruppierungen. Das waren Altlasten, die man in die neue Zeit mit hinübernahm. Und schließlich stand man vor der Schuldfrage.

Schon im August 1945 traf sich die erste evangelische Kirchenkonferenz im hessischen Treysa, um ein kirchenleitendes Gremium zu etablieren. Die erste Kundgebung dort trug den Titel „Verantwortung für das öffentliche Leben“. Man spürte bei den kirchlichen Protagonisten das Versagen in der NS-Zeit und wollte ab sofort bewusst Verantwortung übernehmen. Man fragte nach einem neuen Verhältnis von Religion, Kirche und Politik. Die evangelischen Akademien und drei große evangelische Wochenzeitungen gehen auf diese Initiative zurück. In diese Reihe gehören das Kirchliche Hilfswerk und auch ab 1949 der Kirchentag. Man wollte aus der Vergangenheit lernen und sah sich nunmehr als Verantwortung übernehmender Akteur innerhalb des neu entstehenden demokratischen Staates.

Wie ging die Kirche mit der Schuldfrage um?

Die Stuttgarter Schulderklärung ist als Neuanfang zu werten. Denn erstmals bekannte die evangelische Kirche in Gestalt des Rates der EKD ihre Mitschuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus. Das markierte eine Zäsur, die man allerdings auch nicht glorifizieren darf. Man hatte von Seiten der Ökumene von den Deutschen ein Wort zur Schuld erwartet, das hatten die Vertreter der evangelischen Kirche in Stuttgart geliefert. Problematisch war, dass das Bekenntnis zur Schuld recht unspezifisch geblieben war und nicht klar zwischen persönlicher, kirchlicher und deutscher Schuld unterschied.

Das Eingeständnis war also ambivalent und blieb im deutschen Protestantismus umstritten. Andererseits war das Bekenntnis ökumenischerseits ein großer Erfolg und führte zur internationalen Rehabilitierung des deutschen Protestantismus. Schon 1948 war man in Amsterdam als vollwertiger Player bei der Gründung des Ökumenischen Rates der Kirchen dabei.

1950 hat die gesamtdeutsche Synode der evangelischen Kirche in Weißensee ihre Schuld gegenüber den Juden eingestanden. Dann blieb es lange still. Die einzelnen Landeskirchen folgten erst  nach dem Initialeffekt des Beschlusses der Rheinischen Synode von 1980.

Wie hat die Kirche an der Ausgestaltung des demokratischen Systems mitgewirkt?

Die Kundgebung zur „Verantwortung für das öffentliche Leben“ und ihre Folgen, also zum Beispiel die Entwicklung der evangelischen Presse, hat die Kirche eine treibende Kraft in der Überführung der Diktatur in eine Demokratie werden lassen. Es wurden aus einer protestantischen Perspektive gesellschaftspolitische Diskurse geführt. Auch die Akademien der Landeskirchen waren solche Orte, an denen über das gesellschaftspolitische Engagement von Christen kontrovers diskutiert werden konnte.

Welche Konsequenzen und Lehren zog die Kirche aus den Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg?

Die evangelische Kirche war schon früh nach dem Zweiten Weltkrieg ein vielschichtiges Gebilde. Die Delegitimierung des Krieges war unbestritten, der Weg zum Frieden war indes nicht eindeutig. Teile des Protestantismus setzten politisch auf eine waffengestützte Abschreckung, der zahlenmäßig kleinere Teil entdeckte im Gefolge des Darmstädter Worts von 1947 den Pazifismus für den Protestantismus und engagierte sich früh bei der Friedensbewegung. Auch die Debatte um die Wiederbewaffnung in den 1950er Jahren verstand man als Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg. Im Gefolge des gesellschaftlichen Umbruchs der 1960er Jahre gewannen diese Positionen im Protestantismus weiter an Gewicht. 

 

Information: Eine digitale Ausstellung zum Widerstand evangelischer Christen in der Zeit des Nationalsozialismus finden Sie im Internet unter www.evangelischer-widerstand.de