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Predigt von Heinrich Bedford-Strohm zu Karfreitag 2021 – EKD


Es gilt das gesprochene Wort.

Liebe Gemeinde,

„ich bin in Karfreitagsstimmung“. Diesen Satz sagen wir nicht nur am Karfreitag, sondern wir sagen ihn in bestimmten Lebenssituationen auch an anderen Tagen im Jahr. Dann nämlich, wenn wir niedergedrückt sind, wenn wir kein Land mehr sehen, wenn uns die Zuversicht abhandengekommen ist.

Es kommt selten vor, dass ein ganzes Land in Karfreitagsstimmung ist. Aber am Karfreitag 2021 ist es so – trotz sonnigen Frühlingswetters. Wir hatten noch vor Monaten so sehr gehofft, dass wir das Osterfest in diesem Jahr wieder unbeschwert, überall in unseren Kirchen, mit Gesang und ohne Masken würden feiern können. Ein Osterfest nach Corona als eine Art Neuaufbruch in eine neue Normalität würden feiern können. Es ist anders gekommen. Und wir sind erschöpft, verwundet und empfinden vielleicht auch ein Stück Ohnmacht angesichts der Unkontrollierbarkeit der Situation und der immer wieder enttäuschten Hoffnungen. Ja, es ist nicht schwer, am Karfreitag 2021 Karfreitagsgefühle zu empfinden.

Umso mehr tut es gut, damit nicht allein zu sein. Diese Gefühle mit Menschen in der Kirche hier und vielen anderen Kirchen, digital verbunden mit Menschen in den Wohnzimmern zu Hause und mit so vielen Menschen auf der ganzen Welt zu teilen. Und – vielleicht am wichtigsten: sie mit Gott teilen zu können.

Das ist für mich der wichtigste Grund, warum ich gerade am Karfreitag, warum ich gerade am 2. Pandemie-Karfreitag 2021, den Gottesdienst brauche, warum ich nicht nur mit anderen Menschen, sondern auch mit Gott zusammen sein möchte. Dass Gott selbst meine Verwundung mit mir teilt, ist genauso sperrig und schwer zu glauben wie es tröstlich ist. Wenn das stimmt, dass Gott gerade im Leiden an meiner Seite steht, dann ahne ich, was gemeint ist, wenn der Psalm 139 sagt: „Finsternis ist nicht finster.“ Dann bin ich selbst in meiner größten Verlorenheit nicht mehr verloren.

Schon vor tausenden Jahren, als das sogenannte „Gottesknechtslied“, unser heutiger Predigtabschnitt, aufgeschrieben wurde, haben Menschen das so empfunden. Hunderte von Jahren, bevor Jesus gelebt hat, war das, lange also, bevor es den christlichen Glauben gab. Umso verblüffender ist es, dass in den Worten aus Jesaja schon so lange vor Jesus, diesem Menschen, der so schmachvoll am Kreuz gestorben ist, ein Mann beschrieben wird, bei dem Schmach und Schande und Gottesnähe zusammenfallen. Bis heute wissen wir nicht, wer mit diesem Gottesknecht gemeint war, der da bei Jesaja beschrieben wird. Das geschundene Volk Israel könnte es sein, oder ein einzelner Prophet. So oder so: der Gottesknecht wird als geschunden und verachtet beschrieben:

„Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet.“ So wird er beschrieben. Und auch die Reaktion der Menschen darauf wird sehr direkt beschrieben: „Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte.“

Was Jesaja da über den Gottesknecht sagt, würden wir wahrscheinlich auch über den Karfreitag sagen. Dass der Karfreitag der Lieblingsfeiertag ist, würde wohl kaum jemand sagen. Über Weihnachten mit seinen Lichtern und den Geschenken oder über Ostern mit den Ostereiern und Frühlingsgefühlen wahrscheinlich schon. Und dass der Karfreitag der höchste Feiertag der Protestanten sei, stimmt auch nicht. Das Leiden ist kein Selbstzweck, sondern es ist eine Realität, der man ins Auge sehen muss, um im Herzen wieder Platz für Freude und Zuversicht zu bekommen. Deswegen ist der Karfreitag wichtig!

Nicht weil der Karfreitag ein so schöner Feiertag oder gar mein Lieblingsfeiertag wäre, will ich ihn feiern, sondern weil er dem Raum gibt, was da ist, in mir, in den Herzen so vieler, im Herzen der Welt.

Gerade weil sie da sind, diese Gefühle der Verwundung, der Erschöpfung, der Fehlbarkeit, der eigenen Grenzerfahrungen gerade deswegen sehnen wir uns doch danach, dass uns jemand begleitet auf unserem Weg, dass uns jemand mitnimmt in dieser Situation und aus dieser Situation heraus.

An dem Weg heraus aus dieser Situation arbeiten viele Menschen jeden Tag und sehr konkret mit ihrer je unterschiedlichen Professionalität. Sie retten in den Kliniken und Krankenhäusern Leben. Sie pflegen aufopferungsvoll Alte und Kranke Sie erklären uns, wie das Virus sich verhält und wie wir uns davor am besten schützen können. Sie entwickeln und verfeinern Impfstoffe. Sie produzieren und vertreiben Schnelltests. Sie erdenken politische Lösungen für die Krisensituation oder setzen sie um. Sie führen internationale Verhandlungen um die Verteilung der Impfstoffe. Sie versuchen, Unternehmen, Geschäfte und Restaurants zu stützen und Arbeitsplätze zu retten, bis wieder wirtschaftlich bessere Zeiten kommen. So viele Menschen arbeiten jeden Tag daran, dass wir so gut wie möglich durch die Krise und wieder herauskommen.

Aber wer hilft unserer Seele? Wer reißt uns aus der inneren Dunkelheit, die sich auszubreiten droht? Wer steht uns bei in unserer Angst? Wer versöhnt uns in unserer inneren Zerrissenheit mit uns selbst und mit anderen?

Im letzten Jahr ist in den öffentlichen Diskussionen und in den Talkshows und Sondersendungen viel geredet worden über Virologie, über Kontaktbeschränkungen und über noch mögliche Tourismusziele. Und das mit guten Gründen. Aber darüber, was das Virus mit der Seele macht, ist kaum gesprochen worden. Obwohl es doch für jeden und jede von uns das vielleicht zentralste Thema ist. Woher kommt unsere Hoffnung? Woher kommt unsere Widerstandskraft in dieser Notlage? Woher kommt die soziale Energie, die wir doch gerade jetzt so dringend brachen, damit wir einander nicht zerfleischen, sondern einander beistehen!? Diese für unser Leben so wichtigen Fragen müssen endlich heraus aus einer verborgenen Kammer unseres Herzen hinein in die Gespräche mit Familie und Freunden, aber auch in die öffentliche Verarbeitung der Pandemie!

Die Menschen in unserer pluralistischen Gesellschaft haben ganz unterschiedliche Quellen für ihre je eigenen Antworten. Wir als Christinnen und Christen haben eine klare, eine tröstliche, eine kraftvolle Antwort: Der Gott, der diese Welt geschaffen hat, der uns unser Leben geschenkt hat und der uns jeden Tag begleitet, der führt uns auch durch das finstere Tal dieser Zeit. Er führt uns immer wieder von Neuem auf die grüne Aue und zum frischen Wasser. Dieser Gott ist nicht nur ein Gott für schöne Zeiten, sondern er bleibt bei uns und stärkt uns auch in den schweren Zeiten. Weil er die schweren Zeiten kennt. Weil die Erfahrung des Leidens in das Wesen Gottes selbst eingegangen ist. Weil er unser Leiden auf sich selbst nimmt, wir es auf ihn legen dürfen und so Heilung erfahren.

„Er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“

Jesus, der Sohn Gottes, der ganz eins ist mit Gott, stirbt am Kreuz mit einem Schrei der Verzweiflung. Nie mehr bleibt Gott das Leiden der Menschen fremd. Nie mehr kann Gott Gott sein, ohne das Leiden von uns Menschen mit uns zu teilen. Nie mehr kann Gott zuschauen und die Welt Welt sein lassen.

Nein, Gott hat die Kraft, unsere Trübnis durch seinen lebensschaffenden Geist zu verwandeln. Diesen Geist in unserer Seele wirken zu lasse und uns aufzurichten, neuen Mut zu schaffen. Es ist vielleicht nur ein Licht am Horizont, das wir sehen. Ostern ist noch nicht da. Aber in der Gegenwart Gottes, indem er unsere Not teilt, ahnen wir schon etwas davon, dass diese Not nicht das letzte Wort ist.

Es gibt eine Stelle im Neuen Testament, in der ein Satz aus unserem Predigtwort aus Jesaja zitiert wird. Es ist ein dunkler und schwer verständlicher Satz: „Wie ein Schaf, das zur Schlachtung geführt wird, und wie ein Lamm, das vor seinem Scherer verstummt, so tut er seinen Mund nicht auf“ (Apg 8,32). Ein hoher Finanzverantwortlicher der Königin von Äthiopien – so berichtet die Apostelgeschichte – ist nach Jerusalem gereist, um eine Antwort auf seine religiösen Fragen zu finden. Auf dem Rückweg liest er laut diesen Satz. Philippus, ein Jünger Jesu, hört es, erklärt ihm den Satz und erzählt ihm von Jesus. Erzählt ihm davon, wie die in diesem so dunklen Satz verborgene Hingabe Jesu am Kreuz am Ende zum Beginn des neuen Lebens geworden ist. Und der Kämmerer aus Äthiopien lässt sich spontan taufen.

Er spürt, welche Kraft dieser Glaube an einen Gott hat, der ganz für die Menschen da ist, der ihre tiefste Not mit ihnen teilt, sie auf sich nimmt und ihnen damit die Tür in die Zukunft öffnet.

Rechnen wir mit diesem Gott?! Lassen wir uns herausholen aus der Verkrümmung in unsere Not und in unser Leid? Wagen wir, diese Not und dieses Leid einfach in Gottes Hand zu legen? Kann dieser Gott uns helfen?

Das sind die Karfreitagsfragen, die sich uns heute stellen. Das sind Fragen, die an diesem Karfreitag im Raum stehen. Und stehen bleiben. Stehenbleiben müssen. Denn es ist noch kein Ostern. Wir müssen das Leiden aushalten. Zusammen mit Gott.

Wir können nur vertrauen…

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

AMEN