Schon immer gilt der Grundsatz: alle Psalmen sind Lobgesänge! Alle? Auch zum Beispiel Psalm 58, 11? „Der Gerechte wird sich freuen, wenn er solche Vergeltung sieht, und wird seine Füße baden in des Frevlers Blut; und die Leute werden sagen: … Ja, Gott ist noch Richter auf Erden.“
Es gibt sie in der Bibel, diese Rache- und Hasspsalmen, die wir allerdings in aller Regel übergehen; sie sind uns eher peinlich, wir beten im Gottesdienst lieber die segensreichen, die freundlichen, die zuversichtlichen Psalmen. Wir lassen die rachsüchtigen, bösartigen, aggressiven Sätze einfach aus. Gewalt, Rache, Hass, Drohung, Vergeltung – das alles wollen wir weder lesen noch beten – verständlicherweise. Aber zur Wahrheit unseres Lebens gehört all dies doch auch – und zwar unabhängig von allen Coronabeschlüssen.
Ich habe mich in der Passionszeit immer gefragt, ob Christus nicht auch jenen Vers mit Inbrunst gebetet hat: „Gott, zerbrich ihnen die Zähne im Maul, zerschlage, Herr, das Gebiss der jungen Löwen!“ (Ps 58, 7). Wir stellen uns Christus in der Passion als still Leidenden vor, als klaglos Duldenden, aber vielleicht ist das viel zu harmlos gedacht. Kann er nicht auch mit Hilfe der Psalmen die Menschen verachtet haben, die ihn eben noch mit „Hosianna, gelobt sei, der da kommt im Namen des Herren“ bejubelt haben – und wenig später „Kreuzige ihn“ schreien? Kann er nicht mit Hilfe der Psalmen die Soldaten verflucht und die Spötter beschimpft haben?
Ein Rachepsalm ist immer auch ein Weg zur Bewältigung von Verletzungen und Kränkungen, die man ertragen muss. Zum einen, weil man seinen Hass in Sprache fasst und nicht einfach nur Gleiches mit Gleichem vergelten möchte. Zum anderen, weil man die Rachegefühle vor Gott eingesteht. Denn die Sehnsucht nach Gerechtigkeit ist in allen Hass- und Rachepsalmen der Kern: „Lass mich nicht zuschanden werden, Herr“. Diese Hoffnung entlastet jede Seele, die sich gekränkt, verletzt, gedemütigt fühlt. Rachegefühle nicht blind auszutoben, sie aber auch nicht zu leugnen, sondern sie vor Gott auszusprechen, für Gerechtigkeit zu sorgen: das ist vermutlich die zivilisierteste Form des Umgangs mit Rachegefühlen. Und die Passionsgeschichte ist der uneinholbare Beleg, dass Gott den Leidenden beisteht.