Frau Bösenberg – Sie haben das Kunstprojekt der Schülerinnen und Schüler in der Hospizbewegung Weingarten-Baienfurt-Berg als Lehrerin begleitet. Was ist die Hospizbewegung genau und woher kam die Idee für das Projekt?
Anne Bösenberg (AB): Die Hospizbewegung Wein- garten-Baienfurt-Berg ist ein gemeinnütziger Verein mit ca. 30 freiwilligen Begleiterinnen und Begleitern, der Schwerkranke, Sterbende sowie deren Angehörige unterstützt. Der Impuls zu dem Projekt kam von der Mutter eines ehemaligen Schülers, Frau Antje Claßen, und der hauptamtlichen Leiterin der Hospizbewegung, Frau Dorothea Baur.
Sicher ist es keine leichte Herausforderung, an und für einen solchen Ort Kunstwerke zu entwerfen…
AB: Es war allen bald bewusst: Hier würden nicht in erster Linie kunstinteressierte Besucher über mehrere Wochen die Werke betrachten, sondern Menschen, die sich in einer extremen existentiel- len Situation befinden. Menschen, die in der Regel gerade einen Sterbenden begleiten und betreuen und deshalb das Büro aufsuchen. Außerdem die freiwilligen Begleiter, die an diesem Ort für Besprechungen und Fortbildung zusammenkommen.
Wie sind die Schülerinnen und Schüler mit dem Thema „Leben und Sterben“ bzw. „Begleitung am Lebensende“ umgegangen?
AB: Als wir uns das Büro der Hospizbewegung angeschaut haben, haben uns die Menschen des Vereins viel von ihrer Arbeit und ihren Erfahrun- gen erzählt. Es wurde deutlich: Bei diesem Thema geht es um etwas, das alle betreffen kann und muss – und es gab viele Fragen. Nach anfänglicher Zurückhaltung stellte sich heraus, dass einige der Schülerinnen und Schüler auch bereits persönliche Erfahrungen in Familie und Bekanntenkreis mit Tod und Sterben gemacht hatten.
Welche Rolle spielte der Raum bei der Entwick- lung konkreter gestalterischer Ideen?
AB: In diesem Fall luden die großen Schaufensterflächen ein, den Lichteinfall und die Betrachtungsmöglichkeit von außen zu nutzen. Außerdem war es möglich, Dinge an der Decke zu befestigen und direkt in den Raum einzugreifen.
Welche weiteren Impulse waren hilfreich für die Kunstwerke?
AB: Wir haben uns mit Werken bekannter Künstler beschäftigt, z. B. von Anselm Kiefer, Christian Boltanski oder Gerhard Richter, die sich mit den existentiellen Themen des Mensch-Seins auseinandersetzen, – mit Grenzerfahrungen, dem Tod, aber auch mit Erinnerung. Wir sammelten Ideen, mit welchen bildnerischen Mitteln Dinge gestaltet werden könnten, welche kaum oder gar nicht sichtbar, greifbar und fassbar sein können, z. B. Transparenz, Unschärfe, Trennung oder Auflösung.
Die Vielfalt und Individualität der Arbeiten ist wirklich erstaunlich – sowohl was Material und Techniken betrifft als auch den Grad an Nähe und Abstraktion. Das „letzte Hemd, das Opa trug“ erzählt beispielsweise eine sehr persönliche Geschichte. Anderes – die bunten Ginkgo-Blätter – haben eher eine starke Symbolkraft.
AB: Es ging mitunter genau darum, in welcher Weise jeder Schüler, jede Schülerin persönlich betroffen war, welche Fragen sich besonders aufdrängten und welche Begriffe und Motive sich „festsetzten“.
Und haben Sie auch während der Gestaltungspro- zesse weiterhin über das Thema und die Ideen gesprochen?
AB: Es war wichtig, die Umsetzung der Ideen immer wieder gemeinsam zu hinterfragen, zu diskutieren und zu schärfen; die entscheidenden Schnittstellen zu finden, an denen aus naiverzählerischen Ansätzen (so verständlich und notwendig diese waren) konzentrierte Bildaussagen werden konnten. Ziel war dabei auch, mit den Kunstwerken andere Menschen zum Nachsinnen anzuregen und ihnen wenn möglich – einen positiven, tröstenden Gedanken mitzugeben.
Wie haben die Besucherinnen und Besucher auf die Ausstellung reagiert?
AB: Am Abend der Eröffnung gab es viele Begegnungen und einen intensiven Austausch zwischen den jungen Künstlerinnen und Künstlern und den Besuchern. Ich glaube schon, dass die Ausstellung bei vielen nachgeklungen ist. Für die Schülerinnen und Schüler und auch für mich waren die kreative Auseinandersetzung mit dem Thema „Leben und Sterben“ und die Begegnungen und Gespräche mit Menschen, die sich täglich Sterbenden zuwenden und ihnen zur Seite stehen, auf jeden Fall eine bereichernde und nachhaltige Erfahrung.
Dr. Anne-Kathrin Pappert
Geschäftsführerin der Woche für das Leben und Referentin für Bio-, Medizin- und Umweltethik im Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland