„Wir sind in die Irre gegangen, als wir begannen, eine ‚christliche Front‘ aufzurichten gegenüber notwendig gewordenen Neuordnungen im gesellschaftlichen Leben der Menschen“, geißelt das „Darmstädter Wort“ den Konservatismus der evangelischen Kirche, ihre Obrigkeitshörigkeit und ihre Ablehnung des Sozialismus. „Wir haben das Recht zur Revolution verneint, aber die Entwicklung zur absoluten Diktatur geduldet und gutgeheißen.“ Die Erklärung attackiert die Duldung und Förderung des Nationalismus und des Militarismus sowie die Feindschaft gegenüber dem Marxismus. Die wichtigsten Autoren waren die evangelischen Theologen Hans-Joachim Iwand (1899-1960) und Karl Barth (1886-1968).
Die Aussagen sind nach Pangritz keineswegs Geschichte. „Die größte Brisanz und Aktualität“ komme vor dem Hintergrund des Krieges Russlands gegen die Ukraine der grundsätzlichen These vier zu: „Wir sind in die Irre gegangen, als wir meinten, eine Front der Guten gegen die Bösen, des Lichts gegen die Finsternis, der Gerechten gegen die Ungerechten im politischen Leben … bilden zu müssen.“ Zu schnell werde das Gut-und-Böse-Schema des Kalten Krieges, das Schlagwort von der „Gefahr aus dem Osten“ der Nachkriegszeit, wieder aktiviert, kritisiert der Theologe.
Die Vizepräsidentin des Hessischen Landtags, Heike Hofmann (SPD), findet die Erklärung auch für Politikerinnen und Politiker fruchtbar. „Die Politik sollte selbstkritischer werden mit eigenen Irrwegen und diese mutiger eingestehen“, sagt Hofmann, die berufenes Mitglied der hessen-nassauischen Kirchensynode ist. Die Abgeordnete sieht auch Impulse hinsichtlich des Kriegs in der Ukraine: Deutschland müsse dem angegriffenen Land Waffen zur Selbstverteidigung liefern, aber dennoch mit Russland im Dialog bleiben.
Ein krasses Versäumnis der Erklärung benennt die Generalsekretärin des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, Ilona Klemens: Die Verfasser seien „durch ihr Verschweigen des längsten und verhängnisvollsten Irrwegs selbst in die Irre gegangen“. Die Theologin meint den christlichen Antisemitismus. Es wäre an der Zeit, „eine Art ‚Darmstädter Wort 2.0‘ zu verfassen“, fordert Klemens. Der Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus werde wichtiger.
Die unbequeme Erklärung von 1947 geriet in der evangelischen Kirche in Westdeutschland bald in Vergessenheit. „Das Darmstädter Wort war tabu“, erklärt der Theologe Pangritz. Erst ein linksprotestantischer Basiskongress habe die Erklärung 30 Jahre später wiederentdeckt. An der „Versammlung europäischer Christen“ 1977 in Darmstadt habe auch der Mitautor und ehemalige Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), Martin Niemöller (1892-1984), teilgenommen. „In den Kirchengremien hatte dies wenig Nachwirkung“, findet Pangritz. Im Kirchenbund in Ostdeutschland habe die Erklärung mit ihrem Anknüpfungspunkt am Marxismus hingegen eine gewisse Resonanz gehabt.
Zum 75-Jahr-Jubiläum würdigt der amtierende Kirchenpräsident der EKHN, Volker Jung, das „Darmstädter Wort“. Er kritisiert ebenfalls, dass die Erklärung „keine Silbe für das Menschheitsverbrechen der Shoah übrighatte“. Aber das „Darmstädter Wort“ habe eine große Bedeutung in der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und der „politischen Zeitansage“.
„Das Darmstädter Wort ist eine klare Absage gegen Militarismus und Nationalismus“, betont der Kirchenpräsident. Auch die Aufforderung, Lebensformen abzuändern, wo das Zusammenleben Wandlungen erfordere, sei vor der Debatte um die Gleichstellung gleichgeschlechtlich liebender Menschen richtungsweisend. Bleibendes Verdienst der Erklärung sei, die „gesamte Schuld“ persönlich und generationenübergreifend zu bekennen und auf die Freisprechung durch Jesus Christus zu hoffen, resümiert Jung.
Von Jens Bayer-Gimm (epd)