Sie haben also keine Befürchtung, im Zweifel auch Kanzler Scholz von Ihrer Position überzeugen zu können?
Gidion: Ich freue mich jedenfalls, mit Kanzler Scholz an Gespräche aus Hamburger Zeiten anknüpfen zu können. Ich habe es bislang so erlebt, dass die Politik dankbar ist für den Beitrag der Kirche zum gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Die Kirchen – auch die evangelische – verlieren durch die Glaubwürdigkeitskrise im Zusammenhang mit Fällen sexualisierter Gewalt an Rückhalt. Wie sehr ist das eine Last für Ihre Arbeit?
Gidion: In unserer Kirche wurde Menschen Unrecht angetan und Leid zugefügt. Das schmerzt mich zutiefst. Verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen, ist ein langer Prozess. Dazu gehört, dass wir die Menschen, denen im Raum unserer Kirche Leid angetan wurde, hören und unterstützen. In der EKD haben wir ein neues Beteiligungsforum etabliert, um die verbindliche Mitwirkung von Betroffenen bei Aufarbeitung und Prävention sicherzustellen. Die Mitarbeit dort gehört zu meinen Aufgaben und ist eine wirklich wichtige.
Sie beginnen Ihr Amt aber auch in einer politisch schwierigen Zeit: Durch den Krieg in der Ukraine wird auch in Deutschland aufgerüstet und gleichzeitig haben viele Menschen existenzielle Sorgen durch die hohen Energiepreise. Welche Rolle werden Sie als Stimme der evangelischen Kirche in diesen Debatten einnehmen?
Gidion: Das Thema treibt mich natürlich um und deswegen werde ich den Gottesdienst zum politischen Buß- und Bettag im Berliner Dom unter das Thema „Wärme“ stellen. Mir geht es darum, zu fragen, wie man mit Zusammenrücken, offenen Türen, wachsamer Wahrnehmung diejenigen unterstützen kann, die im Winter frieren werden – sowohl von politischer Seite als auch vonseiten der Kirchen.
Und das Thema Waffenlieferungen? Die evangelische Kirche ist seit dem Ukraine-Krieg in einer neuen friedensethischen Auseinandersetzung. Wo stehen Sie?
Gidion: Wir brauchen keine neue Friedensethik. Was bislang für die evangelische Kirche galt, hat seine Gültigkeit nicht verloren. Wir müssen aber unsere Grundsätze über den gerechten Frieden und die Rechtfertigung von Gewaltanwendung neu buchstabieren unter den Bedingungen eines in die Nähe gerückten Krieges.
Ist Pazifismus damit out geworden?
Gidion: Es muss auch die radikalpazifistische Position geben, weil das zur christlichen DNA gehört. Unsere Gründerfigur – Jesus – sagt nun einmal „Selig sind die Friedfertigen“. Das lässt sich schlecht auf einen Leopard-Panzer schreiben. Gleichzeitig ziehen auch in der Bibel Menschen gegen den Feind in den Krieg, um für die Sache zu streiten. Wir können uns nicht verstecken, wenn in Europa ein Land mit einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg überzogen wird, auch wenn es die christliche Seele und Praxis herausfordert.
Die Ampel-Koalition hat sich die Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen vorgenommen. Womit rechnen Sie in dieser Wahlperiode?
Gidion: Ich finde es positiv, dass die Ampelkoalition das ausdrücklich im Gespräch mit den Kirchen vorantreiben will. Ich bin überzeugt: Es ist Zeit, nach über 100 Jahren endlich den Verfassungsauftrag zur Ablösung der Staatsleistungen zu erfüllen. Die eigentliche Schwierigkeit liegt aber auf Ebene der Länder. Wenn es ein Bundesgesetz gibt, müssen die konkreten Ablöseregelungen zwischen Ländern und Landeskirchen verhandelt werden. Dort sind nach Corona die Kassen klamm, deswegen müssen wir über die Modalitäten reden.
Inwiefern?
Gidion: Wir sollten nicht nur über pekuniäre Ablösemodelle reden, sondern auch über Gebäude und Grundstücke.
Eine andere Aufgabe der Bevollmächtigten ist die Seelsorge für Abgeordnete und Regierungsmitglieder. Sie müssen jetzt also viele Kontakte knüpfen?
Gidion: Ich habe zum Amtsantritt an alle Abgeordneten, Verfassungsorgane, Bundesminister und Fraktionsvorsitzenden einen Brief geschrieben, in dem ich mich vorstelle. Meine erste Andacht im Bundestag ist am 10. November. Ich bin zuversichtlich, dass sich daraus Kontakte ergeben.
Es gibt auch Gottesdienste und Abgeordnetenfrühstücke als Angebot für die evangelischen Politiker. Halten Sie daran fest oder planen Sie etwas Neues?
Gidion: Wir planen auf jeden Fall weiter Abgeordnetenfrühstücke in Berlin und Brüssel. Ich suche aber auch nach Formaten, um konfessionslose Menschen im Politikbetrieb anzusprechen und den Menschen auch an anderen Orten als der Kirche zu begegnen. Ich möchte mich erkennbar und sichtbar als Seelsorgerin unter die Leute mischen. Das wird übrigens auch äußerlich erkennbar sein.
In welcher Form?
Gidion: Ich lasse mir gerade einen Lutherrock anfertigen. Klassisch kennt man ihn ja sonst eher bei Männern. Der Lutherrock ist für Geistliche ein gutes Zwischenstück zwischen Talar und dem üblichen Kostüm. Einige meiner Vorgänger haben ihn getragen. Auch ich werde das bei geeigneten Anlässen tun.
epd-Gespräch: Corinna Buschow