EKD News

Predigt am Karfreitag in St. Matthäus, München – EKD


Liebe Gemeinde,

„Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag…“ An der Schwelle von Leben und Tod entstanden, haben diese Worte eine große Kraft, die wir spüren, sobald wir sie singen. Einander zusingen. Zu uns selbst singen. Unsere Seele saugt sie auf diese Worte. Weil wir die Gewissheit und diesen Trost brauchen, die sie ausstrahlen. Weil wir sie ersehnen. Weil wir so sehr hoffen, dass diese guten Mächte uns wirklich bergen und dass wir es spüren können.

In diesen Tagen greift immer wieder die Dunkelheit nach uns und manchmal dringt sie bis in unser Inneres vor.. In den Stunden der äußeren Dunkelheit breitet die innere Dunkelheit sich aus. In den Nachtstunden, kurz vor dem Einschlafen; Mitten in der Nacht, wenn wir aufschrecken oder, wenn wir morgens zu früh aufwachen,  sind sie da: Gedanken der Angst, der Sorge, der Not, die uns peinigen. Was wird noch alles kommen? Habe ich das Virus schon? Was ist, wenn ich es bekomme? Dass nur bei wenigen Lebensgefahr droht nützt mir nichts, wenn ich einer der wenigen bin. Oder einer meiner Lieben. Was wird aus meinem Geschäft, aus meinen Mitarbeitenden? Was mir vertraut ist, Stabilität gibt, ist ins Wanken geraten. Man darf sich nicht mehr berühren. Man darf nicht zusammenkommen zum Gottesdienst. Wie soll das alles gehen? Schaffe ich das?

Im Grau der Nachtstunden kann uns die Macht und die Wucht solcher Gedanken schnell erfassen, ungebremst erfassen. Um zu verstehen, was mit uns geschieht, mit mir selbst und der so klein gewordenen Welt. Um Gottes Sprache in den Ereignissen unserer Welt zu verstehen, brauchen wir Abstand, Distanz zu unseren aufgewühlten Herzen, zu allem, was mit Macht nach uns greift. Im Hören auf die Passionsgeschichte Jesu finden wir Abstand zu uns selbst, um uns auf einer tieferen Ebene wieder zu finden.  

Denn am Karfreitag erinnern wir uns daran, dass Jesus durch dieses Dunkel gegangen ist. Es war Nacht, als seine Zweifel gekommen sind, als er die Angst gespürt hat. „Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber“ –so betet er nachts im Garten Gethsemane. Eine besondere Form des Innehaltens. Er spricht aus, was ist, was er fühlt und befürchtet, Ausweichen hilft nicht. Er ringt mit Gott  bis zum Schluss am Kreuz.  Es gibt nicht viele Zeugnisse von Dietrich Bonhoeffer, in denen auch bei ihm diese Angst offen zum Ausdruck kommt. Ruhig und gelassen, glaubensgewiss und stark haben ihn seine Mitmenschen erlebt. Umso berührender sind die Worte, die er im Gefängnis in schwerer Zeit aufgeschrieben hat. Er geht auf Abstand zu sich selbst und fragt „Wer bin ich?“.

Friedrich Schloffer

Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest, wie ein Gutsherr aus seinem Schloß.
Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar, als hätte ich zu gebieten.
Wer bin ich? Sie sagen mir auch, ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig lächelnd und stolz, wie einer, der Siegen gewohnt ist.
Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
 matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?…
Wer bin ich? Der oder jener? Wer bin ich?
Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich,
o Gott!“

„Dein bin ich o Gott!“ – Wie kommt es, dass Bonhoeffer in dieser abgründigen Situation, wohl wissend, wie sehr sein Leben in Gefahr ist, all seine Angst, all sein Fragen, all sein Zweifeln, mit diesen Ruf des Vertrauens in Gottes Hand legen kann?

Ich glaube, die Antwort ist das, was wir am Karfreitag zu verstehen versuchen. Im Leiden und Sterben Jesu Christi ist diese Erfahrung des Leidens, die wir Menschen so gut kennen, die wir so schmerzlich gut kennen, ins Gedächtnis Gottes selbst eingegangen, in die Erfahrung Gottes eingegangen, in das Sein Gottes eingegangen. Weil Jesus, Gottes Sohn, Gottes Ein und Alles, sein Leben, sein eigenes Selbst, am Kreuz geschrien hat und jämmerlich gestorben ist, deswegen wissen wir, wie nahe Gott ist, wenn wir heute selbst schreien. Wenn wir heute aus unserer Angst nicht mehr herauskommen, wenn wir die Einsamkeit verfluchen, die aus den Kontaktbeschränkungen entsteht, wenn unsere wirtschaftliche Existenz zusammenbricht, wenn wir noch nicht einmal beim Sterben unserer Lieben die Hand halten dürfen.

Wir können all das in Gottes Hand legen, weil Gott mit uns fühlt, mit uns leidet, mit uns weint. „Nur der leidende Gott kann helfen“ – hat Dietrich Bonhoeffer einmal gesagt.

Manche sprechen in diesen Tagen von einem Gott, der das Corona-Virus als Strafe geschickt hat, um uns zur Besinnung zu bringen. Sie malen uns einen Gott vor Augen, der auf den Corona-Knopf drückt, um seinen Plan für die Welt umzusetzen – und dabei über Leichen geht. Mit einem solchen Gott, liebe Gemeinde, will ich nichts zu tun haben. Es ist nicht der Gott, der sich in Jesus Christus gezeigt hat.

Wir kennen menschliche Kälte – aber es gibt auch so etwas wie göttliche Kälte. Solche göttliche Kälte tritt uns vor Augen in Gottesvorstellungen, die nichts mehr ausstrahlen von der radikalen Liebe, die uns in dem begegnet, was wir von Jesus Christus wissen. Warum es heimtückische Krankheiten gibt, warum blühendes Leben damit einfach zerstört wird und Menschen weit vor der Zeit sterben, wissen wir nicht. Es zeigt sich darin, dass Gottes gute Schöpfung noch nicht vollendet ist, dass die Schöpfung noch im Werden ist, dass sie erst vollendet ist, wenn der neue Himmel und die neue Erde da sind, die das Buch der Offenbarung, das letzte Buch der Bibel, uns vor Augen malt und auf die wir zugehen.

Auf dem Weg in die Tiefe, in dem wir Abstand nehmen zu uns selbst, fragen wir: Wer bin ich? Und wir fragen auch Wer bist du, Gott?  Finden neue Antworten und neue Fragen. „Christen bitten Gott nicht nur um Glück und Brot. Sie gehen zu Gott in Seiner Not, finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot, sehen ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod. Christen stehen bei Gott in Seinen Leiden.“ So hat Dietrich Bonhoeffer den Weg des Karfreitags beschrieben. Es ist sein persönlicher Weg gewesen und es ist der Weg, zu dem die Kirche berufen ist. Wo immer sie diesen Weg in die Tiefe geht, in die Not, in die Obdachlosigkeit, ist sie kraftvolle Kirche für andere. Und auch in leeren Kirchenräumen ein Ort für den leidenden und mitleidenden Gott. Für Gott, sagt Bonhoeffer, „der zu allen Menschen geht in ihrer Not. Er sättigt den Leib und die Seele mit Seinem Brot, stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod, und vergibt ihnen beiden.“ Im Abendmahl, das wir normalerweise heute feiern würden, wäre dieser Trost in besonderer Weise erfahrbar. In diesem Jahr ist der Karfreitag noch karger. Wir vertrauen mit leeren Händen auf Gottes Gegenwart.

Wir wissen nicht, liebe Gemeinde, was die nächsten Wochen und Monate bringen werden. Ob wir das Virus unter Kontrolle bekommen. Ob ein Impfstoff dagegen gefunden wird. Ob die Welt zusammensteht, um die Ärmsten vor dem Schlimmsten zu bewahren. Ob unser Land zusammensteht, um den Menschen beizustehen, die jetzt vieles zu verlieren drohen. Ob und wie wir das Leid tragen, das mit dem Sterben in der Kontaktlosigkeit verbunden ist.

Aber wir wissen, dass wir all unser Nichtkönnen, all unsere Ohnmacht in Gottes Hand legen und darauf vertrauen dürfen, dass Gott uns in dieser Notlage so viel Widerstandskraft geben wird wie wir brauchen. Und dass er auch aus dem Bösesten Gutes entstehen lassen kann und will. Und deswegen können wir die Worte Dietrich Bonhoeffer an diesem heutigen Karfreitag aus tiefster Seele mitsprechen und mitsingen:

„Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft bewahre Eure Herze und Sinne in Christus Jesus.

AMEN