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Predigt zur Corona-Krise – EKD


Gehalten am 22.03.2020 in der Auferstehungskirche der Baptistengemeinde in Bremen-Lesum und vom Deutschlandfunk als Rundfunkgottesdienst live übertragen

„Lätare“ – „Freut euch!“. So heißt dieser Sonntag im Kirchenjahr.

Kann man sich freuen, liebe Gemeinde zu Hause? Kann man sich freuen und fröhlich sein in diesen Zeiten? Kann man sich freuen in diesem Gottesdienst hier in der weitgehend leeren Auferstehungskirche in Bremen? Sie können es nicht sehen, liebe Rundfunkgemeinde. Aber hier sitzen nur einige wenige Chormitglieder, so in der Kirche verteilt, dass keiner irgendjemanden anstecken kann. Es ist für mich ungewohnt, solch eine leere Kirche vor mir zu haben. Als Bischof predigt man ja meistens in einer vollen Kirche.

Und trotzdem spüre ich ihn jetzt, den Geist, der uns alle immer wieder von neuem zusammenführt. Den wir auch deswegen den „Heiligen“ Geist nennen, weil er Menschen zusammenbringt, die sonst nicht so viel miteinander zu tun haben. Ich sehe die brennenden Kerzen hier, ich sehe das Kreuz, ich höre die Musik. Und ich spüre Sie alle, obwohl ich Sie jetzt nicht sehen kann. Ich spüre, wie wir heute eine große Gemeinschaft sind, egal, von wo aus und wie wir diesen Gottesdienst mitfeiern. Ich spüre, wie Sie alle da sind, vielleicht umso mehr, als wir hier in der Kirche jetzt so wenige sind.

Es ist eigenartig. Von allen äußeren Umständen her müsste es dieser Gottesdienst schwer haben, Kraft zu entfalten. Aber es ist nicht so. Es ist Kraft da. Ich spüre sie. Und vielleicht sind es genau diese Umstände jetzt, die uns miteinander diese Kraft spüren lassen.

Mit dem Corona-Virus ist etwas über uns gekommen, das unser Leben in so kurzer Zeit so radikal verändert hat, dass die Seele kaum nachzukommen weiß. Öffentliche Veranstaltungen sind abgesagt und inzwischen komplett verboten. Auf manche hatten wir uns lange gefreut. Geschäfte und Restaurants mussten geschlossen werden. Reisen sind unmöglich geworden. Viele sind ins Homeoffice geschickt worden oder müssen freimachen. In der Landwirtschaft fehlen die Saisonarbeiter. Die KiTas und Schulen sind geschlossen. Und auch unsere Gottesdienste in den Kirchen mussten wir absagen. Das alles ist sehr schmerzlich.

Für manche wird es höchst existentiell. Sie fürchten um ihre wirtschaftliche Existenz. Und denjenigen, die in den Krankenhäusern arbeiten, wird jetzt alles abverlangt. Und sie tun alles, um denen, bei denen die Krankheit einen schweren Verlauf nimmt, zu helfen und Leben zu retten. Ärztinnen und Pfleger wissen nicht, wie oft sie vor schwere Entscheidungen gestellt werden, wem sie noch helfen können und wem nicht.

Viele machen sich Sorgen um ihre Gesundheit oder die ihrer Lieben. Und manche haben einfach Angst. Auch wenn man nicht zu einer der Risikogruppen gehört – der Tod rückt in Herz und Seele näher. Die äußere Distanz, freiwillig oder erzwungen, macht es der Seele nicht leichter.

Kann man sich in einer solchen Situation überhaupt noch irgendwie freuen? Wenn es nach dem Namen des heutigen Sonntags im Kirchenjahr geht, dann ganz bestimmt. „Lätare“ – „Freut euch!“. Aber ist das in diesen Zeiten mehr als eine trockene Bezeichnung, die vielleicht den Kopf, nicht aber das Herz und die Seele erreicht? Denn das Herz und die Seele haben Angst.

Vielleicht brauchen wir sie gerade jetzt, die Erinnerung daran, dass es Licht am Horizont gibt. Der heutige Lätare-Sonntag steht ja nicht für irgendeine krampfhafte Freude, die das Leiden, die Angst, einfach mal für einen Moment vergessen lassen will. Sondern wir Christen feiern ihn mitten in der Passionszeit. Mitten in der Zeit, in der wir an den Leidensweg Jesu Christi denken und ihn in diesem Gedenken mitgehen.

Auch Jesus hatte Angst. Auch darin ist er uns heute nahe. Was kommt da auf mich zu? – hat er sich gefragt, als er innerlich spürte, dass sein Weg ihn ans Kreuz führen würde. „Meine Seele ist betrübt bis an den Tod; bleibt hier und wachet mit mir!“ – sagt er zu seinen Jüngern im Garten Gethsemane. Und betet zu Gott: „Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber“. Er sucht Beistand bei seinen Jüngern – aber sie schlafen. „Konntet ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen?“ Jesus ist enttäuscht. Er fühlt sich allein und verlassen. Er hat den Tod vor Augen.

Nein, am Lätare-Sonntag schieben wir das Leiden und die Angst nicht weg. Wir spüren sie ja, die Angst. Wir nehmen ja Anteil am Schicksal der Menschen, die in den Krankenhäusern auf den Intensivstationen liegen, die um ihr Leben kämpfen. Aber wir öffnen – mitten in der schweren Zeit – unser Herz und unsere Sinne für das Licht am Horizont. Das „kleine Ostern“ – so nennt man den Lätare-Sonntag immer wieder.

„Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet“ lässt Gott durch den Propheten Jesaja ausrichten, im Predigttext für den heutigen Sonntag. „Ihr werdet’s sehen und euer Herz wird sich freuen, und euer Gebein soll grünen wie Gras.“

Jes 66,10-14
10 Freuet euch mit Jerusalem und seid fröhlich über die Stadt, alle, die ihr sie lieb habt! Freuet euch mit ihr, alle, die ihr über sie traurig gewesen seid. 11 Denn nun dürft ihr saugen und euch satt trinken an den Brüsten ihres Trostes; denn nun dürft ihr reichlich trinken und euch erfreuen an ihrer vollen Mutterbrust. 12 Denn so spricht der Herr: Siehe, ich breite aus bei ihr den Frieden wie einen Strom und den Reichtum der Völker wie einen überströmenden Bach. Da werdet ihr saugen, auf dem Arm wird man euch tragen und auf den Knien euch liebkosen. 13 Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet; ja, ihr sollt an Jerusalem getröstet werden. 14 Ihr werdet’s sehen und euer Herz wird sich freuen, und euer Gebein soll grünen wie Gras.

Welch starkes Bild! Gott, von dem wir so oft als Vater sprechen, hier im Bild der Mutter, die tröstet, in deren bergenden Schoß wir uns legen können, die Liebe und Sicherheit ausstrahlt. Die uns das Gefühl gibt: du hast jetzt Angst, aber ich bin da. Und ich werde dich nicht allein lassen. Was immer geschieht, du wirst nicht ins Bodenlose fallen.

Helle Bilder, ein Lichtblick in den Worten des Jesaja für den heutigen Sonntag. Dass das nicht nur Bilder oder gar leere Worte sind, sondern dass es mitten in die Lebenswirklichkeit hineinspricht, erfahre ich gerade jeden Tag. Beim Verlassen meines Hauses finde ich an den Briefkästen den von einem jungen Mitbewohner unterzeichneten handgeschriebenen Zettel: „Liebe Nachbarn, falls Sie zur Corona-Risikogruppe gehören und sich Sorgen um Ihre Gesundheut machen, biete ich gerne meine Hilfe an: Einkaufen gehen, Müll wegtragen, kurze Wege erledigen. Wenn Sie Hilfe brauchen, einfach klingeln oder Zettel mit Namen und Telefonnummer in meinen Briefkasten werfen.“

Da hat einer, der nicht zur Risikogruppe gehört, einfach mitgedacht und Empathie gezeigt. Mein Frisör erzählt mir, im Aufzug in seinem Haus hängt auch so ein Zettel, mit zwei Spalten, in die man sich eintragen kann: Ich brauche Hilfe. Und: ich biete Hilfe an.

Oder das Video aus der Wohnsiedlung in Bamberg, das sich blitzschnell ausgebreitet und vielen Menschen den Horizont hell gemacht hat. Eine wunderbare Botschaft der Solidarität an die Menschen in Italien, auf Italienisch gelesen – und dann lauter Menschen in der Straße auf ihren Balkonen und in den Fenstern, Kinder, Erwachsene, Alte, die gemeinsam Bella Ciao singen. Eine von vielen solcher Botschaften.

Wir machen in diesen Tagen die Erfahrung, dass in vielen Menschen das Beste wachgerüttelt wird, was in ihnen steckt. Und das wirkt viel mehr als die Hamsterkäufe, bei denen die Angst dazu führt, dass Menschen nur noch um sich selber kreisen. Und die, vor allem wenn es um Klopapier geht, willkommene Vorlage für Satiresendungen sind.

Es könnte doch sein, dass wir nach 2015, als es um Geflüchtete ging, nun einmal mehr eine Revolution der Empathie und Achtsamkeit erleben. Grenzenlos, nicht wie das Virus, sondern stärker als das Virus und die Angst, die es verbreitet: Menschen, die Mitgefühl zeigen, die füreinander sorgen, die zusammenhalten, die sich auf das besinnen, was wirklich wichtig ist. Menschen, die auch jetzt keinen Unterschied machen zwischen Geflüchteten und Einheimischen, so wie die Pflegerin hier aus der Gemeinde. Sie wird Jamal aus Afghanistan und die anderen, hier bei uns und in den unseligen Lagern an Europas Grenzen nicht aus den Augen verlieren.

Auf den Balkonen singen die Menschen „Der Mond ist aufgegangen“, andere applaudieren denen, die jetzt in den Krankenhäusern bis an den Rand ihrer Kräfte Dienst tun, um Leben zu retten. Und viele haben die digitalen Kommunikationsmöglichkeiten, von denen zuletzt so viel Hass und Spaltung ausgegangen ist, als Orte entdeckt, in denen Botschaften der Liebe weitergetragen werden.

Es ist ja eine merkwürdige Situation. Der direkte Kontakt, die Umarmung, die körperliche Nähe, die wir doch als stärkstes Zeichen der Liebe kennen, ist nun eine Zeitlang zum Feind der Liebe geworden. Eben hat der stolze Großvater davon erzählt, wie schmerzlich er und seine Frau den „Enkel-Alarm“ vermissen. Da ist es ein Segen, dass wir die digitalen Wege der Liebe und der Anteilnahme haben und nun viele, die bisher damit nichts anfangen konnten, diese Kontaktmöglichkeit zu nutzen beginnen. Das Gesicht der Enkel vor Augen zu haben, mit ihnen zu reden, ihr Lachen zu sehen, das geht im Moment für viele nur so.

Und so machen wir es auch in der Kirche. Es kann kaum etwas Schmerzlicheres für uns geben als in der Passions- und Osterzeit keine Gottesdienste in unseren Kirchen gemeinsam feiern zu können. Aber wir feiern anders zusammen. Wie heute im Radio. Oder an den Fernsehern. Oder in so vielen digitalen Formaten, für die die Ideen gerade nur so hervorsprießen. Und wir machen die Erfahrung, dass wir auch darin Kraft bekommen. Und den Geist spüren, der uns alle immer wieder von neuem zusammenführt zu einer großen Gemeinschaft.
„Ihr werdet’s sehen und euer Herz wird sich freuen, und euer Gebein soll grünen wie Gras.“

Liebe Gemeinde, was Jesaja den Menschen in Israel in schwerer Zeit im babylonischen Exil vor 2500 Jahren gesagt hat, das gilt uns heute genauso. Ich brauche solche Lichtblicke, wenn es dunkel ist und die Schatten an der Wand bedrohlich werden. Jesaja lässt die Tür einen Spalt auf.

Damit kann ich glauben, wie es Dietrich Bonhoeffer in tiefster Nacht aufgeschrieben hat, nämlich „… dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will.“

Damit kann ich mich freuen über „… Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.“
Und bin sicher, „… dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen.“
Dabei will ich nicht vergessen, dass Gott diese Widerstandskraft nicht im Voraus gibt, „damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen.“

Ich bin gewiss: „In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein.“
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, größer als unsere Angst, der bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

AMEN